Deutschland fordert faire, rechtsstaatliche Verfahren für seine inhaftierten Bürger in der Türkei. Doch einen Rechtsstaat gibt’s dort nicht mehr.
Der deutschen Übersetzerin Mesale Tolu drohen in der Türkei 20 Jahre Haft, weil sie an Gedenkveranstaltungen für Terroropfer teilgenommen hat. Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner könnte für 15 Jahre hinter Gitter kommen. Unser Kollege Deniz Yücel sitzt seit Anfang des Jahres im Gefängnis, er wartet noch immer auf seine Anklage. 170 andere Journalisten schmoren in türkischen Knästen, Tausende Oppositionelle ebenfalls, Zehntausende Menschen haben ihre Arbeit verloren. Der Furor des Autokraten Erdogan kennt kein Maß, kein Halten.
Es mutet hilflos an, wenn Außenminister Sigmar Gabriel ein „faires und rechtsstaatliches“ Verfahren gegen Tolu verlangt. Fairness und Rechtsstaatlichkeit gibt es nicht mehr in der Türkei. Das Land, das noch immer offizieller EU-Beitrittskandidat ist, hat sich Lichtjahre vom europäischen Wertesystem entfernt. Der Nato-Partner Türkei kooperiert in Syrien mit Terroristen und im Kampf gegen die kurdische Unabhängigkeit mit dem Mullah-Regime in Teheran. Die türkische Außenpolitik ist seit dem Zerplatzen der neo-osmanischen Träume Erdogans zunehmend unstetig und von Gefühlen wie Wut, Rache und von verletztem Stolz geprägt, die Innenpolitik roh und brutal.
Grünen-Chef Cem Özdemir hat völlig recht, wenn er die deutschen Gefangenen in der Türkei als Geiseln bezeichnet, nichts anderes sind sie. Allein die Rücksichtnahme auf ihr Schicksal rechtfertigt die Zurückhaltung, die Berlin noch immer im Umgang mit Ankara an den Tag legt. Beschämend ist es gleichwohl, wie sich Berlin vorführen lassen muss.