Wesel. Die Stiko empfiehlt eine Impfung für Kinder ab 12 Jahren nicht generell. Dr. Cordula Koerner-Rettberg erklärt, dass sie dennoch Vorteile hat.
In vier Wochen beginnt wieder die Schule. Angesichts der um sich greifenden Delta-Variante sind viele Eltern in Sorge, wie sich die Infektionslage entwickeln wird. Für Verunsicherung sorgt zudem der Disput zwischen Wissenschaft und Politik darüber, ob auch schon Kinder ab 12 Jahren gegen Covid-19 geimpft werden sollten. Die Ständige Impfkommission (Stiko) spricht keine grundsätzliche Empfehlung dafür aus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und andere Politiker fordern derweil, die Altersgruppe in die Impfkampagne einzubeziehen. Für Dr. Cordula Koerner-Rettberg vom Marien-Hospital wäre das ein richtiger Schritt. Denn das Thema beschäftigt die Chefärztin der Kinder- und Jugendmedizin schon seit einiger Zeit.
Zum Beispiel deshalb, weil das Long-Covid-Syndrom zunehmend auch bei Kindern und Jugendlichen in Wesel diagnostiziert wird. Am Marien-Hospital gibt es eine Reihe junger Patienten, die an den Spätfolgen einer Infektion leiden.
Vierte Welle könnte besonders Jüngere betreffen
„Wir wissen seit Monaten, dass es auch junge Erwachsene trifft. Und wenn es 25-Jährige bekommen, gibt es keinen vernünftigen Grund, warum nicht auch Jugendliche erkranken sollten“, sagt sie zu den Langzeit-Beschwerden. Die Fachärztin ist überzeugt: Wenn die 12 bis 17-Jährigen nicht geimpft werden, steigt die Zahl der Infektionen in einer vierten Welle gerade bei den Jüngeren – und damit auch die Zahl derer, die unter anhaltenden Folgen wie schwerer Erschöpfung, Kopf- und Gliederschmerzen, Schwindel sowie Konzentrations- und Denkproblemen leiden.
Die Chefärztin zitiert Studien zum Beispiel aus Italien: Sie haben ergeben, dass auch viele Kinder und Jugendliche nach der akuten Phase mit langfristigen Beschwerden kämpfen. „Die Zahlen lassen eine ähnliche Häufigkeit wie bei Erwachsenen möglich erscheinen. Leider gibt es bisher keine größeren Studien zur Häufigkeit von Long Covid bei Kindern und Jugendlichen“. Das sei der Grund, warum die Stiko das Phänomen bei ihrer Bewertung nicht berücksichtigt, so die Medizinerin.
Long-Covid-Ambulanz für Jugendliche in Wesel
Die Kinder- und Jugendmedizin am Marien-Hospital ist gemeinsam mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) gerade dabei, eine Long-Covid-Ambulanz für Kinder und Jugendliche aufzubauen. Bei 13 Heranwachsenden zwischen 14 und 17 Jahren wurde die Erkrankung diagnostiziert, vorwiegend bei Mädchen. „Ab der Pubertät haben die Mädchen ein höheres Risiko“, stellt Cordula Koerner-Rettberg fest. „Die Patienten sind zum Teil über Monate schwer beeinträchtigt.“ Ein Mädchen leidet bereits seit einem Jahr an den Symptomen. Die meisten Betroffenen meldeten sich im Marien-Hospital ohne zu ahnen, welchen Ursprung ihre Beschwerden haben.
Es gibt aus Sicht der Chefärztin ein zweites Argument für die Impfung: „Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie mit am meisten gelitten und tragen auch mit die größte Last.“ Ohne Impfung drohen hohe Infektionszahlen unter Kindern, Quarantäne, möglicherweise Distanzunterricht – und damit eine erneute Isolation. Die Folgen des Lockdowns seien schon jetzt in Wesel zu spüren: „Die Plätze in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tagesklinik sind trotz der erweiterten Kapazitäten schon jetzt stark ausgelastet“. Die soziale Teilhabe durch Schule und Freizeitangebote sei enorm wichtig, denn die Mädchen und Jungen haben fast anderthalb Jahre mit vielen Einschränkungen hinter sich. „Für Kinder ist das eine lange Zeit.“ Zeit, die sie nicht nachholen können.
Eine Impfung für 12-Jährige ist heute schon möglich
Gerade mit Blick auf die hochansteckende Deltavariante und die Tatsache, dass in den Impfzentren viele Termine frei bleiben, hält sie eine Änderung der Impfpraxis für sinnvoll. „Ich würde es begrüßen, wenn die Stiko zu einer anderen Risiko-Nutzen-Bewertung kommen würde“, so die Chefärztin. Eine erhöhte Gefahr für Kinder durch Nebenwirkungen sieht sie nicht, das hätten Erfahrungen zum Beispiel aus den USA gezeigt – dort wird ab 12 geimpft. „Es gibt keinen Hinweis, dass ein 13, 14-Jähriger die Impfung schlechter verträgt als ein 20-Jähriger.“ Bisher empfiehlt die Kommission die Impfung von unter 18-Jährigen nur bei Vorerkrankungen.
Eltern, die ihre Kinder impfen lassen möchten, weist Cordula Koerner-Rettberg darauf hin, dass dies auch heute schon möglich ist. Denn zum Beispiel das Biontech-Vakzin ist in Europa für Kinder ab 12 Jahren zugelassen, die Stiko-Empfehlung nicht bindend. Wer das möchte, sollte einfach seinen Kinderarzt ansprechen. Niedersachsen hat seine Praxis übrigens jetzt geändert: Dort werden in Impfzentren alle Kinder ab 12 geimpft.