Oberhausen. Die Zahl der Fehltage steigt. Firmen sehen einen Zusammenhang mit dem Krankschreiben per Telefon. Wie ein Oberhausener Ärztesprecher reagiert.
Die Anzahl der Fehltage von Beschäftigten steigt deutlich an. In den ersten acht Monaten dieses Jahres gab es laut AOK bundesweit so viele Krankheitsfälle wie im gesamten Vorjahr 2023, das bereits einen Höchstwert aufwies. Seit solche Daten in der Welt sind, ist eine Diskussion über die Ursachen entbrannt.
Frage nach dem Zusammenhang von steigenden Fehltagen und Krankschreiben per Telefon
Dabei gerät die Krankschreibung per Telefon in den Blickpunkt. Dass ein Mediziner den Patienten am Telefon und ohne Untersuchung krankschreiben kann, diese Möglichkeit besteht nach der Coronazeit in etwa seit einem Jahr wieder. Gibt es da also einen Zusammenhang mit den steigenden Zahlen?
Der Unternehmerverband Ruhr-Niederrhein bleibt zunächst eher vorsichtig: Eine Abhängigkeit lasse sich nicht eindeutig belegen, sagt Hauptgeschäftsführer Wolfgang Schmitz. Schließlich kennen nach seinen Worten Arbeitgeber weder die Diagnose noch den ausstellenden Arzt. „Wir glauben auch nicht, dass es hier zu massenhaftem Missbrauch kommt“, sagt der Verbandschef und erklärt dann: „Aber dass das eine zumindest in einem gewissen Rahmen das andere bedingt, halten wir für möglich“.
Aus Sicht des Unternehmensverbandes kann die Versuchung groß sein
Deshalb macht sich der Verband dafür stark, „zum bewährten Verfahren zurückzukehren“, sprich die Telefonvariante wieder zu streichen. In der Coronazeit war sie ein „gutes Instrument, um die damalige Extremsituation zu bewältigen“. Nun aber müsse man feststellen, dass die Hürden für eine AU (Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung) deutlich niedriger liegen als vor Corona. „Wenn ein Anruf genügt, um ein paar Tage freizubekommen, kann die Versuchung groß sein.“ Sorge bereitet Schmitz die Entwicklung der Krankheitsstände, die Firmen an „ihr Limit bringen“. Es gehe nicht nur um immensen wirtschaftlichen Schaden, sondern auch darum, dass für die verbleibenden Beschäftigten die Belastung steige, was zum Problem werden könne.
Verständnis, wonach Fehltage Betriebe unter Druck setzen, kann der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung für Oberhausen, Sebastian Griesau, zweifellos aufbringen. Aber für das Krankschreiben per Telefon gelten nun mal klare Vorgaben, betont der Mediziner, wodurch Vorsorge getroffen werden, Missbrauch möglichst zu vermeiden. Zunächst einmal dürfe ein Arzt nur die eigenen Patienten krankschreiben.
Laut Oberhausener Ärzte-Vorsitzendem sind Krankschreibungen per Telefon eher die Ausnahme
Zudem habe ein Patient kein Anrecht auf diese Handhabe. Es bleibe stets dem Mediziner vorbehalten, ob er den Aussagen des Patienten auch wirklich Glauben schenken kann. „Wenn jemand schon mehrfach versucht hat, gerade am Wochenbeginn eine AU zu erhalten, kommt er für die Telefonregelung wohl kaum in Betracht.“ Ferner dürfe es sich auch nur um Krankheiten handeln, die „keine schwere Symptomatik“ aufweisen, wie es die Kassenärztliche Vereinigung betone. „Damit sind grippale Infekte, Erkrankungen der Atemwege oder beispielsweise ein Magen-Darm-Katarrh gemeint“, erläutert Griesau. „Schließlich darf die AU auch höchstens für fünf Tage gelten.“
Schaut der Vorsitzende auf seine eigene Bilanz - und bei Kolleginnen und Kollegen verhalte es sich ähnlich - dann kommt er zum Schluss: Krankschreibungen per Telefon sind eher die Ausnahme, machen bei ihm höchstens zehn Prozent der Krankschreibungen aus. Gänzlich, so viel räumt Griesau aber durchaus ein, lasse sich nicht verhindern, dass jemand die Regelung zum „Blaumachen“ nutze.
Oberhausener Stadtverwaltung kann Behauptung zu Telefonlösung nicht mittragen
Hört man sich in örtlichen Firmen um, ergibt sich durchaus ein geteiltes Echo. Da heißt es beispielsweise aus dem Oberhausener Rathaus mit rund 3000 Beschäftigten, dass man die Behauptung, die Telefonlösung würde die Krankmeldungen erhöhen, nicht mittragen könne. Der Arbeitgeber erfahre doch gar nicht, ob der Krankenschein bei einem Arztbesuch oder einem Telefonat ausgestellt wurde. Ähnlich fällt auch die Reaktion im MAN-Werk (rund 1700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) aus, das laut eines Sprechers auch keinen Zusammenhang erkennen kann.
Der Chef des Handelsverbandes Ruhr, Marc Heistermann, kommt hingegen zu einem anderen Schluss. Er argumentiert folgendermaßen: Vor Corona habe es bei der AOK Rheinland/Hamburg im ersten Halbjahr 2019 rund 800.000 Krankschreibungen gegeben, im ersten Halbjahr 2024 rund 1,24 Millionen. „Bei Atemwegserkrankungen, die hauptsächlich für die Telefon-AU infrage kommen, hat sich die Zahl verdoppelt.“ Für Heistermann ist naheliegend, dass es vor diesem Hintergrund Stimmen gibt, die einen Zusammenhang zwischen der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Telefon und den stark gestiegenen Krankheits-Zahlen nicht ausschließen. „Dem hohen Beweiswert einer ordnungsgemäß festgestellten Arbeitsunfähigkeit kann nur eine persönliche ärztliche Untersuchung gerecht werden“, betont er.
Unternehmen aus Oberhausen machen sich für Abschaffung der Telefon-Lösung stark
Für Stefan Michel, Geschäftsführer von Fitscher Guss, senkt die telefonische Krankschreibung die Hemmschwelle, sich arbeitsunfähig schreiben zu lassen. Im Unternehmen sei die Zahl der Kurzzeitkrankschreibungen (grippaler Infekt, Atemwege) um rund 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. „Es kann für ein mittelständisches Unternehmen mit ca. 100 Mitarbeitern fatale Folgen haben, wenn 20 bis 30 Mitarbeiter nicht an ihren Werkbänken oder Arbeitsplätzen sind.“ Damit knüpft er sehr deutlich an die Bedenken des Unternehmerverbandes an.
Aus Sicht von Florian Schindelmann, Oberhausener Chef des Turbinenhersteller EthosEnergy, liegen keine aussagefähigen Statistiken zu möglichen Folgen der Krankschreibung per Telefon vor. Dennoch: Das Unternehmen würde einer Abkehr von allzu freizügigen Möglichkeiten der Krankmeldung zustimmen und hat dabei den internationalen Wettbewerb im Blick: Die durchschnittliche Zahl an Krankheitstagen eines Arbeitnehmers in Deutschland liege höher als in manchen anderen Ländern, sagt der Firmenchef.
Sebastian Griesau sieht im Übrigen einen Vorteil in der Telefonlösung auch darin, dass der erkrankte Patient im Zweifelsfall nicht auch noch andere Leute ansteckt - in der Praxis, aber auch in den Unternehmen.
Zahlen für Oberhausen
Nach Angaben der AOK Rheinland/Hamburg waren im ersten Halbjahr 2024 rund 54 Prozent der AOK-Versicherten in Oberhausen mindestens ein Mal krankgeschrieben. Der Gesamtkrankenstand lag in dem Zeitraum bei 7,73 Prozent (Gesamt-Krankenstand Rheinland: 7,3 Prozent). Das heißt: Während der ersten sechs Monate sind täglich 7,7 von 100 Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz ausgefallen. Im Vergleichszeitraum 2019 lag der Krankenstand bei Oberhausener AOK-Versicherten mit 6,14 Prozent deutlich darunter. Mit 5,88 Prozent war der Gesamt-Krankenstand im Bereich Rheinland sogar noch niedriger.
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