Oberhausen. Mit dem MGV Ossian erliegt ein Kapitel Oberhausener Kulturgeschichte dem Wandel der Zeit. Erinnerungen an rauschende Bälle und volle Konzertsäle.

Anno 1879 ist es gerade einmal fünf Jahre her, dass Oberhausen Stadtrechte erhalten hat. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner beträgt 16.000. Auf der Berliner Gewerbeausstellung präsentiert der Ingenieur Werner von Siemens die erste elektrische Lokomotive und in der Porzellanfabrik Hohmann, unweit des Oberhausener Hauptbahnhofs, beschließen 38 Mitarbeiter, einen Gesangverein zu gründen, damals ein übliches Hobby, auch unter Jüngeren: Es ist die Geburtsstunde des MGV Ossian. Jahrzehnte voller Proben, Konzerte, Familienfeste, Wettsingen und Reisen folgen. Der Chor wächst, die Zahl seiner Förderer auch. Zwei Weltkriege schaffen es nicht, das Band zu zerreißen, das den inneren Kreis zusammenhält. Bis jetzt. Im August 2024 hat sich der Verein aufgelöst. Den verbliebenen Mitgliedern blieb keine andere Wahl.

„Es tut uns allen weh“, sagt Jürgen Köhler, erster Vorsitzender des Männergesangvereins Ossian. „Wir würden gerne weitersingen.“ Zwei Jahre lang hatten er und die anderen Vorstandsmitglieder nach Nachfolgern gesucht. Köhler ist 83 Jahre alt, sein Stellvertreter Walter Schulten, 78. Sie würden gerne den Staffelstab an jüngere Gesangsbrüder weiterreichen. Das Problem: Es gibt keine. Nicht nur, dass sie zum Schluss nur noch 25 Aktive waren, sie zählten alle schon sehr viele Lenze. Seit acht Jahren, berichtet Hermann Stoltenberg (88), habe es keinen Zuwachs mehr gegeben.

Redaktionsbesuch nach der Auflösung: (v.l.) Walter Schulten, Peter Reichart, Hermann Stoltenberg und Jürgen Köhler vom Oberhausener Männergesangverein Ossian.
Redaktionsbesuch nach der Auflösung: (v.l.) Walter Schulten, Peter Reichart, Hermann Stoltenberg und Jürgen Köhler vom Oberhausener Männergesangverein Ossian. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Ein großes Problem für einen Chor mit Anspruch. „Bei klassischer Chormusik muss das Stimmenverhältnis stimmen“, erklärt Jürgen Köhler. Zuletzt sei dies nicht mehr möglich gewesen. „Wir hatten nur noch zwei Erste Tenöre, einer davon 90 Jahre alt.“ Da habe man stets ein Kerzchen anzünden müssen, dass es beim nächsten Mal noch klappt, fügt er als herben Scherz hinzu.

Oberhausen in den 1960ern: Als Vereinsleben und Brauchtum selbstverständlich waren

Zu viert sind sie in die Redaktion gekommen, um von der bewegten Geschichte ihres Vereins zu berichten – und von dessen Ende. Jürgen Köhler, der 22 Jahre dabei war; Hermann Stoltenberg, Ehrenvorsitzender und Sänger seit 58 Jahren; Peter Reichart, 66 Jahre aktiv und Walter Schulten mit 50 Jahren Sangeserfahrung. Sie sind aufgewachsen in einer völlig anderen Zeit. Nicht nur, dass es ganz normal war, in einem Verein zu sein, Traditionen zu pflegen, wie Reichart erzählt, dessen Vater schon Ossian-Vorsitzender war und dessen Brüder auch im Chor sangen. „Der Chor war jeden Tag Thema beim Mittagessen“, erinnert er sich. „Es war selbstverständlich, dass ich mit 18 Jahren auch beitrat.“

Schöne Erinnerung: Festkonzert zum 120-jährigen Bestehen des Oberhausener Männergesangvereins Ossian.
Schöne Erinnerung: Festkonzert zum 120-jährigen Bestehen des Oberhausener Männergesangvereins Ossian. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Auch die Stadt war in ihrer Jugend eine andere. „Der gesamte Mittelstand, die kleinen Geschäfte, die Schuster, Bäcker, Schneider und Fleischer sind weg“, beklagt Hermann Stoltenberg. So seien auch die Anzeigen weggefallen, die solche Betriebe in den Programmen und Festschriften schalteten. Man kannte sich, ging in dieselben Kneipen. Das nächste Problem: Gaststätten mit Räumen, in denen sie proben konnten, wurden immer weniger. Nicht nur die Chorleiter-Gagen, auch die Saalmieten wurden im Laufe der Jahre immer teurer. In der Luise-Albertz-Halle haben sie deshalb seit 2005 keine Konzerte mehr gegeben. Ihre neue Bühne war bis 2019 das Ebertbad, das den Verein zu besonderen Konditionen willkommen hieß.

„Die Kosten müssen eingespielt werden, sonst hat man keine Chance“, beschreibt Jürgen Köhler den Druck, der inzwischen auf allen Oberhausener Traditions-Chören laste. „Jeder Chor krankt“, sagt er über die anderen Männergesangvereine. Überall liege der Altersdurchschnitt bei über 75. Die Frage laute nur noch: „Wer wird am längsten überleben?“

Männergesangverein Ossian: Feuerwerk im Kaisergarten zum Jubiläum

Der MGV Ossian hat diesen traurigen Wettstreit nicht gewonnen. Trotz eigener Fahne, trotz geschmückter Straßen und Feuerwerk im Kaisergarten zum 25. Jubiläum, einer großen Ausstellung im legendären Kaufhaus Magis zum 50. Geburtstag. Sie haben Bälle veranstaltet und 700 Karten für ein einziges Weihnachtskonzert verkauft. Mit 22 Chorleitern haben sie zusammengearbeitet, darunter erstklassige wie Manfred Jung, der auch bei den Bayreuther Festspielen auf der Bühne stand. Zu ihren Schirmherren zählte Reichspräsident Paul von Hindenburg, Minister Gerhard Schröder (CDU) und der bekannte Kaufmann Kurt Löwenthal.

Eines der zahlreichen Weihnachtskonzerte des Männergesangvereins Ossian in der St. Marien-Kirche in Alt-Oberhausen.
Eines der zahlreichen Weihnachtskonzerte des Männergesangvereins Ossian in der St. Marien-Kirche in Alt-Oberhausen. © FFS | Kerstin Bögeholz

„So wie wir gealtert sind, ist unser Publikum auch gealtert“, sagt Jürgen Köhler, der letzte Erste Vorsitzende des MGV Ossian. Es ist eine nüchterne Feststellung. Doch sie verlieren alle nicht die Fassung, während sie erzählen. In dieser anderen Welt, in der sie aufgewachsen sind, schickte es sich vermutlich nicht, dass gestandene Männer über Gefühle sprechen. Der Abschied fällt ihnen dennoch unendlich schwer, das ist zu spüren. Und so ganz verstehen sie es auch nicht, wie all das Schöne, Glitzernde, Aufregende, Gesellige, das sie mit ihrem Chorsänger-Dasein verbinden, peu à peu verblassen und dann ganz verschwinden kann. In einer Zeit, in der es doch immer noch – oder vor allem – Gemeinschaft braucht.

Die verbliebenen Ossianer wollen diese Zusammengehörigkeit nicht aufgeben. Sie haben einen Stammtisch gegründet und treffen sich jeden Monat in der „Bauernstube“, bald auch im „Haus Union“, wo sie 30 Jahre lang geprobt haben. Vielleicht reicht es nicht mehr, um aufzutreten, doch Erinnerungen auszutauschen an ihren einstigen „Stehkragen-Verein“, an Originale wie den Buchbinder an der Stöckmannstraße oder den Besitzer von „Piano Ludwig“, der sich wie Don Camillo kleidete, das lassen sie sich nicht nehmen.