Oberhausen. Das Bürgergeld ist wie Hartz IV in der Diskussion: Ist das Geld zu hoch? Sind Arbeitslose zu lahm? Wir fragten eine Praktikerin im Jobcenter.
Seit einem halben Jahr leitet die Juristin Valeska Hurraß das Oberhausener Jobcenter mit seinen 360 Beschäftigten. Mit ihren Teams ist sie für fast 10.000 Arbeitslose und deren Familien verantwortlich, insgesamt fast 30.000 Oberhausenerinnen und Oberhausener. Das erste Interview mit der 46-jährigen Essenerin führten wir in ihrem Büro im Erdgeschoss des neuen Jobcenter-Gebäudes auf der Marktstraße in der Oberhausener Innenstadt.
Frau Hurraß, wir erleben in diesen Wochen wieder heftige Diskussionen um das Bürgergeld. Ist das nach ihrer Meinung zu hoch, um einen Anreiz zu bieten, Arbeit aufzunehmen?
Das glaube ich nicht. Sicher mag es einige Einzelfälle geben, die keinen Anreiz haben, arbeiten zu gehen. Aber in der Regel erleben wir eine solche Einstellung während unserer Vermittlungsarbeit nicht. Im Übrigen haben Experten errechnet, wie hoch der Regelsatz sein muss, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können - die Werte sind also nicht zu hoch. Allerdings beobachten wir schon, dass in den letzten Jahren weniger Menschen aus dem Bürgergeld in Arbeit kamen, aber das hat in der Regel andere Gründe, als fehlende Eigeninitiative oder die aktuelle Höhe des Bürgergeldes: Das liegt vor allem an der Kundenstruktur und der derzeitigen Wirtschaftslage. Wir haben viele Kundinnen und Kunden, die keine abgeschlossene Berufsausbildung und dadurch schlechter Jobaussichten haben: Bei unseren Arbeitslosen sind das drei Viertel. Und wir haben eine große Kundengruppe, die die deutsche Sprache noch nicht so gut spricht, dass sie Arbeit aufnehmen kann.
Wenn man allerdings sieht, dass eine Familie mit drei Kindern, davon zwei unter 14 Jahren, inklusive angemessener Unterkunft und Heizung 3243 Euro im Monat erhält – dann ist das doch schwer, diese Summe mit einfacher Arbeit netto zu erreichen, oder?
Natürlich erhält man umso mehr Leistungen von uns, desto größer die Familie ist. Wenn man zum Beispiel im Helferbereich eine Arbeit aufnimmt, die nicht so gut bezahlt ist, dann kann man davon seine Familie nicht alleine ernähren, sondern bekommt dann auch aufstockend von uns Leistungen. Wenn wir Arbeitslosen einen Arbeitsplatz vermitteln, schauen wir natürlich auch darauf, ob mit der Bezahlung sein Bedarf gedeckt wird, in vielen Fällen ist das auch der Fall. Ich bin aber grundsätzlich der Auffassung, dass Arbeit sich immer lohnt und nicht nur zum Geldverdienen da ist, sondern viele positive Nebeneffekte hat: Soziale Kontakte knüpfen, die deutsche Sprache im Betriebsalltag lernen, etwas Sinnvolles tun - und vieles mehr.
Wenn einer arbeitet, hat er auf jeden Fall mehr Geld, als wenn er nicht arbeitet, weil im Zweifel der Lohn aufgestockt wird. Aber reicht der Abstand als Arbeitsanreiz aus?
Letztendlich ist das eine individuelle Frage, die jeder für sich entscheiden muss. Mit dem Bürgergeld ist jedenfalls die Hinzuverdienst-Regelung bereits höher gesetzt worden. Ich glaube insgesamt aber, dass es sich nach wie vor aus ganz vielen Gründen immer lohnt, arbeiten zu gehen.
Halten Sie Sanktionen, also Einbußen bei den Geldzahlungen des Jobcenters, für richtig - im Fall von Bürgergeldempfängern, die Termine nicht wahrnehmen oder die Arbeit ablehnen?
Ich glaube schon, dass wir eine gewisse Entschiedenheit im gesamten Prozess der Arbeitsvermittlung benötigen. Sanktionen sind sinnvoll, um eine klare Verbindlichkeit im Ablauf zu erreichen. Denn wir haben in Oberhausen im Schnitt circa 30 Prozent der Kundinnen und Kunden, die unsere Termine nicht wahrnehmen. Dies ist auch der größte Anteil an den Sanktionen. Dass Arbeiten gar nicht aufgenommen werden oder eine Maßnahme nicht angetreten wird, ist seltener der Fall.
Also war es ein Fehler der Politik, diese Sanktionen mit der Bürgergeld-Reform weitgehend abzuschaffen?
Man hat das Thema Sanktionen ja wieder aufgegriffen und will da nachschärfen. Das finde ich richtig. Im Moment laufen die Diskussionen, das Bürgergeld bei Meldeversäumnissen um 30 Prozent für drei Monate zu kürzen.
Es gibt die Behauptung, dass Arbeitskräfte sogar ihre Arbeit niedergelegt haben, um stattdessen Bürgergeld zu kassieren. Haben Sie diese Erfahrung hier gemacht?
Nein, dies erleben wir hier vor Ort überhaupt nicht. Wenn wir mit unseren Vermittlungsfachkräften hier sprechen, dann hören wir das nicht. Das schließt aber nicht aus, dass es einzelne Fälle dieser Art gibt.
Oberhausen hat seit vielen Jahren insgesamt 11.000 bis 12.000 Menschen, die Arbeit suchen. Wie müssen sich Arbeitslose mehr anstrengen als bisher, um eine Arbeit zu finden?
Für jeden einzelnen gehörte es schon immer dazu, sich selbst anzustrengen. Doch wenn wir die Kundenstruktur sowie die Stellen-Situation betrachten, stellen wir aktuell eine enorme Diskrepanz fest: Wir haben viele Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung; Menschen also, die eher im Helferbereich eine Anstellung finden würden. Doch derzeit haben wir hier wenige Arbeitsplätze im Angebot. Die Unternehmen suchen gut qualifizierte Fachkräfte. Wir versuchen deshalb, die Arbeitslosen fortzubilden, sodass sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
Was soll Deutschland mit all den Menschen machen, bei denen das nichts nutzt, die in ihren Fähigkeiten begrenzt sind?
Man muss sich auf jeden Fall um sie kümmern. Das machen wir auch, wir haben hier für diese Personengruppen entsprechende Instrumente, um sie langsam an Tagesstruktur zu gewöhnen und auf den Weg zu einer Arbeitsaufnahme zu bringen. Was uns aber besorgt: Wenn die Bundesregierung an ihren Haushaltsplänen für 2025 festhält, werden wir solche guten Angebote quantitativ herunterfahren müssen. Wenn dies so kommt, dann bedauere ich das sehr, denn dann würde diese Personengruppe weitgehend auf der Strecke bleiben, weil wir das Geld dafür nicht mehr hätten.
Wenn Sie die Macht hätten, die Bürgergeld-Regeln zu ändern, was würden Sie korrigieren?
Ich würde, glaube ich, gar nicht so viel ändern, weil es für die Jobcenter schön wäre, wenn man mal kontinuierlich arbeiten könnte. Seit 20 Jahren werden die Regeln sehr häufig geändert, da wäre es gut, mal ein wenig Ruhe hineinzubringen.
Deutschland hat einen langen über ein Jahrzehnt währenden Wirtschaftsaufschwung hinter sich. Dennoch ist es Oberhausen nur kurz gelungen, die Arbeitslosenquote unter zehn Prozent zu drücken. Wir haben immer noch fast 10.000 Arbeitslose, die das Jobcenter betreut. Woran liegt das?
Dafür gibt es sehr viele Gründe. Einen entscheidenden Knick hat es während der Corona-Pandemie gegeben - und jetzt befinden wir uns schon im zweiten Jahr einer Wirtschaftskrise. Unternehmen halten zwar ihre Beschäftigten noch: Wer in Arbeit ist, ist im Moment noch relativ sicher. Doch wer einmal arbeitslos geworden ist, der hat es deutlich schwerer, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Wenn ich keine Ausbildung vorweisen kann, keine Berufserfahrung habe, dann habe ich es im Moment wirklich schwer, einen Job zu finden.
Aber wir haben vor der jetzigen Krise zehn Jahre Wirtschaftsaufschwung gehabt. Hat Oberhausen diese Zeit zu wenig genutzt?
Da ich in der Zeit noch nicht in Oberhausen war, kann ich dazu nichts sagen. Was ich aber versichern kann, ist, dass auch im Oberhausener Arbeitsmarkt sehr viel Bewegung ist. Das sind ja nicht immer die gleichen 10.000 Arbeitslosen. Unsere Arbeit im Jobcenter, die Arbeit der Arbeitsagentur hier ist sehr nachhaltig. Wir qualifizieren viele Menschen, so dass sie letztendlich eine Arbeit finden.
Die Zahl der Arbeitslosen steigt leider, im Vergleich zum Vorjahr haben nun knapp 1000 Oberhausener mehr keinen Job und suchen einen. Sind das die Vorboten einer massiven Wirtschaftskrise auf dem Arbeitsmarkt mit Massenentlassungen?
Aktuell befürchte ich das für Oberhausen noch nicht, aber die Entwicklung bei großen Unternehmen in den Nachbarstädten besorgt uns schon. Wir werden dann wohl mit den Arbeitslosen, die wir hier im Jobcenter aktuell haben, zum Teil einen längeren Weg vor uns haben, um diese in Arbeit zu bringen. Deswegen wäre es fatal, wenn der Bund in seiner Haushaltslage uns das Geld für unsere unterstützenden Instrumente kürzen würde.
Welche Schwächen stellen Sie nach einem halben Jahr in Oberhausen fest, wenn sie die wirtschaftliche und soziale Lage betrachten?
Ich habe hier vor allem ganz viel Positives wahrgenommen. Wir haben hier eine enge Vernetzung und Zusammenarbeit aller wichtigen Akteure, hier ziehen wirklich alle an einem Strang. Wenn man die Herausforderungen einer Ruhrgebietsstadt bewältigen muss, geht das auch nur so.
Vielen Dank, Frau Hurraß, für dieses Gespräch.
Zur Person
Valeska Hurraß ist gebürtige Essenerin und wohnt in der Oberhausener Nachbarstadt mit ihrem Mann. „Ich bin eingefleischte Ruhrgebietlerin“, versichert die 46-Jährige im Gespräch. Nach ihrem Juristischen Staatsexamen beim Oberlandesgericht Düsseldorf hat Hurraß eine interne Karriere bei der Arbeitsverwaltung hingelegt und dort 18 Jahre Berufserfahrung gesammelt - von der Pike auf. „Im operativen Bereich war ich praktisch überall tätig.“ Sie arbeitete zunächst zehn Jahre in vielen Feldern im Jobcenter Düsseldorf, vier Jahre als Bereichsleiterin im Jobcenter Duisburg und vier Jahre als Geschäftsführerin Operativ in der Arbeitsagentur Gelsenkirchen. Ihr größter dienstlicher Wunsch: „Mehr Wertschätzung der Bevölkerung für die Beschäftigten im Jobcenter.“ In ihrer Freizeit segelt sie auf dem Baldeneysee und wandert gerne.