Oberhausen. Die Leiterin des Oberhausener Frauenhauses geht mit einer heftigen TV-Produktion an ein Gymnasium. Wie die Mädchen und Jungen reagieren.
„Reiche ich dir nicht?“, brüllt der junge Mann seine Freundin an. Er ist völlig in Rage. Sie schaut verängstigt zur Seite, ahnend, was jetzt passiert. Mitten ins Gesicht schlägt er sie und schaut dabei wütend auf sie herab, als sei sie diejenige, die ihm gerade etwas angetan hat. Die beklemmende Szene flackert auf einer Leinwand im Klassenzimmer der 8c im Bertha-von-Suttner-Gymnasium. Der Raum ist abgedunkelt, bis auf die Film-Geräusche ist nichts zu hören. Die Mädchen und Jungen sitzen gerade auf ihren Stühlen, die Anspannung ist zum Greifen spürbar. Auf dem Stundenplan steht heute etwas aus dem echten Leben: ein Workshop, bei dem es um Gewalt gegen Frauen geht.
Sind diese Kinder nicht noch viel zu jung dafür? „Nein“, sagt Workshop-Leiterin Suna Tanış entschieden. Als Leiterin des Frauenhauses Oberhausen kennt sie die traurige Realität: Man kann potenziellen Tätern nicht früh genug aufzeigen, wie und wann sie Grenzen überschreiten und potenzielle Opfer nicht früh genug dazu ermutigen, sich Hilfe zu suchen.
Ein Film über Wut und Hass und über Scham und Schuld
Im Film „Endlich frei“, aus dem die Jugendlichen heute Ausschnitte sehen, überschminkt sich gerade das Mädchen, das vorhin geschlagen wurde, ihr Veilchen. Sie blickt dabei in den Spiegel, verzieht kaum das Gesicht. Doch jeder Tupfer tut ihr weh, das ist zu erahnen. In der nächsten Einstellung spricht die Schauspielerin, die so eindringlich spielt, mit einer blonden Frau. Es ist Sarah Bora, Sängerin und Ehefrau des Rappers Eko Fresh, die gerade Regieanweisungen gibt für die nächste Szene.
Bora erklärt der Schauspielerin, wie sich der Hass des Jungen immer weiter steigert und wegen nichtiger Gründe in Gewalt entlädt. Und wie das Mädchen sich immer hilfloser und gedemütigter vorkommt, seine Taten aus Scham sogar vor ihren Freundinnen deckt. Sarah Bora weiß dies alles so genau, weil sie selbst dieses Mädchen war. Jahrelang.
Sängerin Sarah Bora erzählt die Geschichte ihrer Misshandlung
Die Aufmerksamkeit der Jugendlichen sei einfach viel größer, wenn Prominente über das Thema sprechen, weiß Suna Tanış. Weshalb sie froh ist, dass Sarah Bora eine der drei Frauen ist, die in „Endlich frei“, einem Film, an dem das Oberhausener Frauenhaus mitgewirkt hat, ihre Geschichte erzählen. Mehr als 800.000 Menschen haben diesen besonderen Dokumentarfilm am 7. März 2023 auf Sat.1 gesehen. Der Erfolg hat die Mitarbeiterinnen im Frauenhaus nicht nur stolz gemacht, sondern auch auf die Idee gebracht, einen Workshop zu konzipieren, mit dem sie nun an weiterführenden Schulen Jungen und Mädchen für das Thema sensibilisieren wollen.
„Sehr extrem psycho“, fand ein dunkelhaariger Junge aus den vorderen Reihen, was die Schüler gerade gesehen haben. „Cool, dass sie das verfilmt hat“, meldet sich ein anderer Junge zu Wort. „Und das berührt einen auch.“ Ein Mädchen sagt: „Sehr krass, dass die Frauen den Mut haben, darüber zu reden.“ als Tanış und Krämer die Jugendlichen nach ihren Gefühlen und Gedanken fragen, fällt eines auf: Da ist kein betretenes Schweigen, da sind keine Rechtfertigungen vonseiten der Jungen. Sie sind ebenso eindeutig und einfühlsam aufseiten des Opfers wie die Mädchen in ihrer Klasse.
In die Schulen kommen sie immer im Team, eine Frau und ein Mann, darauf legt Suna Tanış großen Wert. An ihrer Seite ist Filmemacher Jan Krämer von der Oberhausener Produktionsfirma Ruhrkomplex. „Was ist häusliche Gewalt? Wie fängt sie an?“ – Zwei Fragen, die Suna Tanış während des heutigen Workshops mit den Schülern bespricht. Weitere sind: Was kann ich dagegen tun? Wohin kann ich mich wenden? Tanış berichtet jetzt darüber, wie schwierig es war, Frauen zu finden, die mit dem, was ihnen widerfahren ist, vor die Kamera treten. „Viele schämen sich, obwohl sie keine Schuld trifft.“
Filmemacher berichtet Oberhausener Schülern über Anti-Gewalt-Doku
Filmproduzent Krämer berichtet auch von der Arbeit hinter den Kulissen. Wie sehr sie bei den Dreharbeiten zum Beispiel darauf achten mussten, die Persönlichkeitsrechte der Täter zu schützen, „auch wenn das total irre ist“. Jetzt sollen die Schülerinnen und Schüler sagen, was anders gelaufen wäre, wenn die Mutter von Sarahs Freund eingesehen hätte, dass ihr Sohn sich falsch verhält. Was, wenn Sarah sich früher gewehrt hätte. Was, wenn ihre Freundin bemerkt hätte, dass irgendetwas nicht stimmt.
„Wie würdet ihr helfen?“, fragt Suna Tanış. „Zur Polizei gehen und Anzeige erstatten“, antwortet ein Mädchen. „Ihr dabei helfen, dass sie sich selbst nicht die Schuld gibt“, sagt einer der Jungen. „Ganz wichtig ist, dass man Betroffene dazu ermutigt, sich Hilfe zu holen“, sagt Tanış. „Nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder.“ Fünf bis sieben Anläufe würden die Frauen brauchen, die im Frauenhaus in Oberhausen unterkommen.
Für das Workshop-Konzept gab es eine Förderung von 160.000 Euro vom Land. Im Oktober werden Tanış und Krämer an weiteren Schulen in Oberhausen damit zu Gast sein und bis Ende Februar auch in anderen Städten in NRW. Interessierte Lehrerinnen und Lehrer können sich noch melden. Die Filmfirma Ruhrkomplex arbeitet an einem Internetauftritt mit den einzelnen Workshop-Modulen, die dann in Kombination mit dem Film, den man immer noch online ansehen kann, als Unterrichtsinhalt für Schulen in ganz Deutschland dienen könnte.
- Sie interessieren sich für Familien-Nachrichten aus dem Ruhrgebiet? Dann melden Sie sich für unseren kostenlosen Newsletter an: Hier geht’s zur Anmeldung.