Oberhausen. Der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen ist für seinen Israel-Demo-Aufruf angefeindet worden. Nobelpreisträgerin Herta Müller greift dies auf.

In einem bemerkenswerten Essay hat Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller die Folgen des Hamas-Massakers an über 1200 Jüdinnen und Juden in Israel am 7. Oktober 2023 analysiert - und ihre Abscheu und ihr Unverständnis gegenüber dem Israel-Hass und Antisemitismus vor allem von Teilen der Linken und Kulturszene beschrieben.

In ihrer Montagsausgabe vom 3. Juni 2024 hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) diesen Meinungsbeitrag der Schriftstellerin auf einer ganzen Seite unter der Überschrift „Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen“ veröffentlicht. Dabei führt sie als Beispiel den unverhohlenen Boykottaufruf von Teilen der internationalen Filmszene gegen die diesjährigen Oberhausener Kurzfilmtage an - auch um zu zeigen, wie Menschen aus der Kulturszene der gefühlsbetonten Hamas-Propaganda auf den Leim gehen. Müller bedauert, dass es kaum noch möglich ist, ruhig und sachlich über den Gaza-Krieg zu diskutieren - und es viele nicht mehr schaffen, differenziert auf den Nahost-Konflikt zu schauen.

Erstmals sahen sich die Kurzfilmtage in Oberhausen gezwungen, Sicherheitskontrollen am Eingang des Lichtburg-Kinos zur Eröffnung der 70. Kurzfilmtage einzuführen. Auch die Zahl der Sicherheitskräfte wurde erhöht - aus Sorge vor Attacken von Antisemiten.
Erstmals sahen sich die Kurzfilmtage in Oberhausen gezwungen, Sicherheitskontrollen am Eingang des Lichtburg-Kinos zur Eröffnung der 70. Kurzfilmtage einzuführen. Auch die Zahl der Sicherheitskräfte wurde erhöht - aus Sorge vor Attacken von Antisemiten. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Sie beginnt ihren Text mit einer Klarstellung: „In den meisten Erzählungen über den Krieg in Gaza beginnt der Krieg nicht dort, wo er begonnen hat. Der Krieg begann nämlich nicht in Gaza. Der Krieg begann am 7. Oktober, an Jom Kippur, genau fünfzig Jahre nach dem Überfall Ägyptens und Syriens auf Israel. Palästinensische Hamas-Terroristen verübten ein unvorstellbares Massaker in Israel. Sie filmten sich dabei als Helden und feierten ihr Blutbad. Ihre Siegesfeiern setzten sich zu Hause in Gaza fort, wohin die Terroristen schwer misshandelte Geiseln schleppten und sie der jubelnden palästinensischen Bevölkerung als Kriegsbeute präsentierten. Dieser makabre Jubel verlängerte sich bis nach Berlin.“

Ausgerechnet die queere LGTB-Szene unterstützt die Hamas

Teile der Kunstszene, viele Linke und ausgerechnet die queere LGBT-Szene hätten sich trotzdem auf Seiten der Hamas geschlagen. „Ich habe über dreißig Jahre in einer Diktatur gelebt. Und als ich nach Westeuropa kam, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Demokratie jemals so infrage gestellt werden könnte. Ich dachte, dass man in der Diktatur planmäßig verblödet wird. Und dass man in Demokratien individuell denken lernt, weil der einzelne Mensch zählt. Ich bin entsetzt, dass gerade junge Leute, Studenten bei uns im Westen, so verwirrt sind, dass sie sich ihrer Freiheit nicht mehr bewusst sind. Es ist doch absurd, dass etwa Homosexuelle und queere Menschen für die Hamas demonstrieren. Es ist doch kein Geheimnis, dass nicht nur die Hamas, sondern die ganze palästinensische Kultur LGBTQ verachtet und bestraft. Allein eine Regenbogenfahne im Gazastreifen ist unvorstellbar.“

Den Erfolg der Hamas-Propaganda gerade bei diesen Gruppen erklärt sich ihrer Meinung nach auch mit der großen Verbreitung sozialer Medien, die Emotionales und Zugespitztes, aber nicht Differenziertes begünstigen: „Springen in den Köpfen der jungen Leute nur noch Clips wie bei Tiktok? Bekommt die Verführbarkeit der Massen, der Grund für das Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts, eine neue Wendung? Komplizierte Inhalte, Nuancen, Zusammenhänge und Widersprüche, Kompromisse sind der medialen Welt fremd.“

Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, bei der Preisverleihung der 70. Internationalen Kurzfilmtage.
Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, bei der Preisverleihung der 70. Internationalen Kurzfilmtage. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Dies macht die in Rumänien geborene Herta Müller auch an der Reaktion auf den Pro-Israel-Demo-Aufruf Mitte Oktober 2023 durch Lars Henrik Gass fest, dem Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen. Gass hatte angeregt, in Berlin auf der Israel-Demo ein starkes Zeichen zu setzen, dass „Hamas-Freunde und Judenhasser in der Minderheit sind“. Darauf gab es Beleidigungen und feindliche Aussagen gegen Gass und die Kurzfilmtage sowie einen Boykottaufruf einer anonymen Gruppe, Filmemacher kündigten ihre Zusagen für Filmeinreichungen. Die Kurzfilmtage mussten mit Sicherheitskräften geschützt werden.

Literatur-Nobelpreisträgerin lobt Aussagen von Kurzfilmtage-Leiter Gass

Die 70-jährige Nobelpreisträgerin schreibt: „Lars Henrik Gass sagt ganz richtig, man erlebe zurzeit eine Regression in der politischen Auseinandersetzung. Statt politischen Denkens herrsche ein esoterisches Verständnis von Politik. Dahinter stehe die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit und Konformitätsdruck. Auch in der Kunstszene ist eine Differenzierung zwischen dem Eintreten für das Existenzrecht Israels und der gleichzeitigen Kritik an seiner Regierung unmöglich geworden.“

Zuschauer im vollen großen Saal des Oberhausener Traditionskinos Lichtburg bei der Preisverleihung der 70. Internationalen Kurzfilmtage.
Zuschauer im vollen großen Saal des Oberhausener Traditionskinos Lichtburg bei der Preisverleihung der 70. Internationalen Kurzfilmtage. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Herta Müller erklärt sich als Folge daraus, dass von den Palästinenser-Freunden noch nicht einmal die Taktik der Hamas beleuchtet wird: „Darum wird nicht einmal erwogen, ob die weltweite Empörung über die vielen Toten und die Not in Gaza nicht vielleicht zur Strategie der Hamas gehört. Sie ist taub und blind für das Leid ihrer Bevölkerung. Die Hamas setzt auf einen permanenten Krieg mit Israel. Er wäre die beste Garantie für ihr Weiterbestehen. Im Iran gibt es die Redewendung: Israel braucht seine Waffen, um seine Bevölkerung zu schützen. Und die Hamas braucht ihre Bevölkerung, um ihre Waffen zu schützen.“