Mülheim. Nach einem furchtbaren Unfall lag ein Mülheimer viele Monate im Krankenhaus, dem Tod nahe. Nun will der ehemalige Blauhelm-Soldat anderen helfen.
Der Mann, der dem Tod so nah war, der über seine Leidenszeit sprechen will - wie sieht er aus? Markus Weiland, groß gewachsen, trägt einen signalgelben Kapuzenpulli mit dem Aufdruck „Schietwetter“, darüber eine Daunenweste. Sein Gang wirkt eckig, unrund, doch dass er überhaupt laufen kann, Wind und Wetter spüren, am Körper, im Gesicht, ist für ihn ein Geschenk. Der 54-Jährige ist Unfallopfer und möchte eine Selbsthilfegruppe gründen, weil er es schade findet, wenn Menschen sich aufgeben - „schade um das Leben“.
Fast anderthalb Jahre seines Lebens hat Weiland in Krankenhäusern verbracht. „Durchgehend“, sagt der Mülheimer. „Einmal durch die Hölle und wieder zurück.“ Die Tortur ist noch nicht vorbei. Im Januar muss er sich erneut einer Operation unterziehen. Er hat unzählige Eingriffe hinter sich. Doch er hat den Unfall überlebt. Und seine Frau auch.
Mülheimer Paar überlebte schweren Verkehrsunfall nur knapp
Die Unfallfahrerin überlebte nicht, sie ist in ihrem Auto gestorben. Am 12. Juni 2021, kurz vor Mitternacht, raste sie auf einer Landstraße bei Bocholt frontal auf den Wagen von Markus Weiland und seiner Frau zu. Sie seien auf dem Heimweg gewesen, berichtet der Mülheimer, er saß auf dem Beifahrersitz. Er habe sich kurz hinuntergebeugt, um etwas aus dem Fußraum zu holen, plötzlich rief seine Frau: „Da kommt jemand auf uns zu!“
Dann fiel er ins Dunkle. Erst etwa zwei Monate später kam Weiland langsam zu sich, in einem Krankenbett in der Uniklinik Münster, verbunden, verkabelt, bewegungslos. Überall Schläuche, Fixateure an Arm und Bein. „Man wacht auf und fragt: ,Wo ist meine Frau? Was ist los? Und um Gottes Willen, wer kümmert sich um die Tiere?‘“ Das Paar hatte damals neun Nymphensittiche, aus dem Tierheim. Dass die Nachbarschaft auf der Heimaterde sofort die Pflege der Vögel übernommen hat, kann er in diesem Moment nicht wissen.
Zahlreiche Knochenbrüche, Hirnblutungen, Bauch aufgerissen durch den Sicherheitsgurt
Sein Körper lag in Trümmern. Er hatte etliche Knochenbrüche, darunter einen offenen Beinbruch, Hirnblutungen, eine Lungenquetschung. Sein kompletter Unterbauch sei durch den Sicherheitsgurt aufgerissen worden, erzählt der Mülheimer. Eine grauenvolle Wunde, die über Monate von innen heilen musste. Er habe Opiate bekommen, „unter Drogen gestanden“, und erinnert sich an „Träume - das können Sie sich nicht vorstellen“.
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„Es war Wahnsinn.“ Immer wieder fallen diese Worte, wenn Weiland über die Zeit nach dem Unfall spricht. Zwei Mal sei er beinahe gestorben. Beim ersten Mal, aufgrund einer Sepsis, war es ihm nicht bewusst. „Da stand ich noch zu sehr unter Tabletteneinfluss.“ Beim zweiten Mal hätten seine Nieren versagt. „Mir ging es von Tag zu Tag schlechter. Einer der Ärzte sagte: ,Ich habe bei einem lebenden Menschen noch nie so schlechte Werte gesehen wie bei Ihnen.‘“ Heute ist er allen, die ihn behandelt haben, von Herzen dankbar, auch den Rettungskräften am Unfallort, er sagt: „Meine Hochachtung gilt den Ärzten und dem Einsatzpersonal, die anscheinend immer alles richtig gemacht haben.“
Ehefrau erst nach drei Monaten wiedergesehen: „Haben nur geweint“
Seine Frau sah Weiland erst drei Monate nach dem Unfall wieder. Sie war - ebenfalls schwer verletzt - im Bochumer Bergmannsheil behandelt worden. Im Rollstuhl kam sie ihn besuchen. „Wir haben nur geweint.“ Die Erinnerung an diesen Augenblick bewegt ihn bis heute, Tränen steigen auf. Doch seine Leidenszeit war nach dem Wiedersehen längst nicht vorbei.
Der Schwerverletzte hatte noch lange Monate in Krankenhäusern vor sich. Im August 2021 wurde er ins Mülheimer St. Marien-Hospital verlegt. „Ich habe fast nur gelegen, gelegen, gelegen. Mein Leben bestand aus Operationen, Fernsehgucken, liegen.“ Er will nicht von Depressionen sprechen, doch viel Schwermut sei dabei gewesen.
Hartes Training in der Rehaklinik
Ab Oktober 2021 kam er immer wieder in die Fachklinik Rhein/Ruhr in Essen-Kettwig. Wo er - unterbrochen von erneuten Krankenhausaufenthalten und vielfachen Operationen - insgesamt sieben Monate verbrachte. Dort, in der Reha-Klinik, ging der Kampf weiter. Liegend sei er dort hingekommen, sagt Weiland, viel später folgten die ersten Schritte. Gegangen sei er letztlich an Krücken. Er schildert quälendes, hartes Training.
Um nach Hause entlassen zu werden, habe er Treppen bewältigen müssen. Weilands wohnen im zweiten Obergeschoss. Es habe Rückschläge gegeben, mal habe er vier Stufen geschafft, mal nur eine, weil die Schmerzen unerträglich waren. „Gut, am nächsten Tag geht‘s weiter. Und das möchte ich auch anderen Leuten vermitteln. Dranbleiben, immer dranbleiben.“
Einsatz als Blauhelm-Soldat im Jugoslawienkrieg
Markus Weiland, der aus dem nordfriesischen Städtchen Heide stammt, ist nach eigener Aussage kein gläubiger Mensch. Er sei zwölf Jahre lang Zeitsoldat gewesen, erzählt er, zuletzt Oberfeldwebel. Seinen Glauben habe er als Blauhelm-Soldat im Jugoslawien-Krieg verloren, zu viel Schlimmes gesehen. Aufgrund einer MS-Erkrankung musste er die Bundeswehr verlassen, machte eine Ausbildung zum Speditionskaufmann, arbeitet heute bei einem Unternehmen in Essen. Seit etwa 16 Jahren lebt er in Mülheim.
Sein Chef habe ihm die Arbeitsstelle nach dem Unfall frei gehalten, berichtet der Mülheimer. Egal, wie lange es dauern würde. Kraft gegeben, das Ganze durchzustehen, habe ihm seine eigene Motivation, der Rückhalt seiner Frau, seiner Familie, die ihn immer wieder aufgebaut hätten. Er fahre auch längst wieder Auto, habe sich aber einen wuchtigen Wagen gekauft, einen Dodge, in dem er sich sicherer fühlt.
Neubeginn nach schwerem Unfall: Gesprächsgruppe „Phoenix“ soll helfen
Nun möchte er, mit Hilfe des Müheimer Selbsthilfe-Büros, eine Gesprächsgruppe gründen: „Phoenix“ soll sie heißen. Der Name steht für Aufstehen, Lebenswille, Neubeginn. Ziel ist, so heißt es in der Ankündigung, „gemeinsam den Mut und die Motivation zu entfachen, den Blick nach vorn zu richten und die vielfältigen Möglichkeiten zu entdecken, die das Leben auch nach einem schweren Unfall noch bietet“. Einen kraftvollen, aufsteigenden Vogel hat sich Weiland auch auf den Unterarm tätowieren lassen. Darunter das Unfalldatum: 12.06.2021.
Markus Weiland sagt, er sei irgendwann morgens aufgewacht, mit dem Gedanken: „Du hast so viel mitgemacht. Warum hilfst du nicht anderen, gibst ihnen ein bisschen Motivation? Ich weiß jetzt, was ich vom Leben habe.“ Er dürfe wieder einkaufen gehen, in Urlaub fahren. Er spiele wieder Tischtennis, fahre Rad, wenn auch langsamer als früher, tue alles, um körperlich halbwegs fit zu werden. „Das geht nicht von heute auf morgen. Das müssen diese Leute auch verstehen. Es gibt auch Rückschläge. Aber es geht immer voran.“
Mülheimer vor nächster OP - ob der Unfall ein Suizid war, bleibt offen
Für ihn persönlich wird das neue Jahr mit der nächsten Operation beginnen, diesmal an der Hüfte, „die leider auch gelitten hat“. Da müsse er durch, meint Markus Weiland, und schaut nach vorne: „Die Ärzte haben schon gesagt: ,Danach werden Sie deutlich besser laufen können. Deutlich besser!‘“
Ob die Autofahrerin in der Frühlingsnacht 2021 absichtlich auf sie zuraste, ob es ein Suizid war, weiß man nicht. Sie sei betrunken gewesen, sagt Markus Weiland, habe offenbar an schweren Depressionen gelitten. Die Polizei habe ermittelt. Ein Abschiedsbrief wurde nicht gefunden. „Es ist passiert. Wir akzeptieren es jetzt so, wie es ist.“ Von der Familie der Verstorbenen haben sie nie etwas gehört.
Wer an der Gesprächsgruppe „Phoenix“ interessiert ist, kann sich beim Mülheimer Selbsthilfe-Büro melden: telefonisch unter 0208-300 4814 oder per Mail an selbsthilfe-muelheim@paritaet-nrw.org.
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