Mülheim. „Der zerbrochne Krug“ von Kleist hat in Mülheim Premiere. Die Produktion bietet viel für Augen und Ohren. Regisseur Philipp Preuss im Interview.

„Der zerbrochne Krug“ von Kleist gehört zum Kanon der deutschen Literatur, das Drama – als hintergründiges Lustspiel angelegt – steht auch in den Lehrplänen der Schulen. Kann man mit dieser Gerichtsstory von 1811 Jugendliche heute noch erreichen? Und wie stellt man das an? Philipp Preuss liefert jetzt eine politische und sinnlich-satte Bühnenfassung des klassischen Stoffes (Untertitel „Tambora“). Sie hat am kommenden Donnerstag Premiere am Theater an der Ruhr und ist danach noch fünf Mal in diesem Jahr zu sehen. Der Regisseur hat uns ein paar Fragen zu seiner Produktion, die sich an Menschen jeden Alters richtet, beantwortet.

Was ist das „Moderne“ an Kleists Stück? Welche Fragen, die es aufwirft, sind für junge (und ältere) Leute heute interessant?

Klassiker sind deswegen wohl auch Klassiker, weil in ihnen die darin aufgeworfenen Fragen einfach noch nicht beantwortet sind und eben immer noch relevant sind. Spätestens seit „Me too“ wird die Frage nach Macht und Machtmissbrauch und Feminismus laut und offensiv gestellt. Das Stück ist in all seiner Tragik schon auch komisch, generell finde ich eine Theaterform spannend, die nicht allwissend, belehrend, eindimensional und schwarzweissmalerisch ist, sondern Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten zulässt und ins Unbewusste vorstößt. So wie es eben halt auch im Leben ist.

Wird das Geschehen in einen zeitlosen oder modernen Rahmen gestellt oder bleibt es beim Kleist‘schen gesellschaftlichen und politischen Kontext (niederländische Kolonialgeschichte)?

Wir haben uns im Lauf des Stücks intensiv mit der Kolonialgeschichte der Niederlande beschäftigt, die ja auch viel mit unserem neoliberalen Wirtschaftssystem zu tun hat und ich finde es hochspannend und sehr politisch, wie die individuelle Schuld und der Machtmissbrauch Einzelner, Teil einer ideologischen Herrschaftsform, also systemisch, ist. Die Verstrickungen von Kolonialismus und Patriarchat sind frappant.

Schauspieler*innen verwandeln Text in Versform in zeitgenössische Sprache

Was bedeutet der Zusatz „Tambora“ im Titel des Stücks?

Tambora ist der Name des Vulkans, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also rund um die Entstehungszeit des Stücks, in der niederländischen Kolonie „Indonesien“ in einer nie dagewesenen Eruption explodiert ist. Er forderte nicht nur zahlreiche Opfer in der Region, sondern es folgten daraufhin Wetterveränderungen und Missernten auf der ganzen Welt, die auch in westlichen Ländern Armut, Hungersnöte und Migrationsbewegungen auslösten. Diese Eruption war ein Ereignis, das die Welt im Großen veränderte, so wie im Kleinen der zerbrochene Krug die Dorfstruktur erschüttert. Ich finde es zudem ein schönes geheimnisvolles Bild dafür, was unter der Firnis von Zivilisation an Gewalt und Triebhaftigkeit lauert.

Die Kostüme von Eva Karobath sind historisch inspiriert. „Der zerbrochene Krug“ von Kleist hat jetzt im Theater an der Ruhr in Mülheim Premiere.
Die Kostüme von Eva Karobath sind historisch inspiriert. „Der zerbrochene Krug“ von Kleist hat jetzt im Theater an der Ruhr in Mülheim Premiere.

Das Stück ist in Versform geschrieben? Wie gehen Sie damit um?

Die Sprache Kleists ist eine Kunstsprache, die einen eigenen Kosmos evoziert. Zunächst wirkt sie sperrig, ist aber sehr konkret und verlangt Gedankenschärfe. Wir haben eine eigene Fassung erarbeitet, die versucht viel „Stukkatur“ wegzulassen, um sich auf diese Gedankenarchitektur konzentrieren zu können. Die tollen Schauspielerinnen und Schauspieler haben lange daran gearbeitet, dass der Text zeitgenössisch, schnörkellos und direkt rüberkommt.

Junges Theater & Schullektüre

„Der zerbrochne Krug“ von Kleist ist einer der klassischen deutschen Dramenstoffe – und nach wie vor Teil des Bildungskanons. Er steht auch jetzt wieder in den Lehrplänen der Schulen.

Die TaR-Inszenierung („Junges Theater“), die als Kooperation mit dem FFT in Düsseldorf entsteht, gibt – wie auch schon der „Woyzeck“ – Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit, diesen berühmten Stoff auch tatsächlich auf der Bühne zu sehen.

„,Junges Theater‘ bedeutet dabei in erster Linie, dass das TaR zu dem Stück ein theaterpädagogisches Programm anbietet, das bei Interesse von Schulen in Anspruch genommen werden kann. Eingeladen sind aber natürlich alle, von jung bis alt“, so Dramaturgin Constanze Fröhlich.

Im Idealfall erfahre man bei einem Besuch der Inszenierung, welche ungeahnten Perspektiven sich aus der Textvorlage ergeben, und wie lebendig und zeitlos ein Werk, das über 200 Jahre alt ist, im Theater noch wirken kann. Theater stelle immer Fragen und schlage Sichtweisen vor, die mit der heutigen Welt zu tun haben und die Zuschauer direkt ansprechen.

Wie passt die Inszenierung unter das Spielzeitmotto „Geheimnis“? Es geht ja um Lüge und Wahrheit? Vielleicht um Fake-News, Manipulation und Korruption?

Generell ist der zerbrochene Krug das Stück des Geheimnisses – alle Figuren haben eines, aber auch das System: Justiz, Militär, Wirtschaft und die Politik müssen ihre Geheimnisse bewahren und beschützen, der zerbrochene Krug als Objekt wirkt wie ein McGuffin in einem Hitchcock, der viel zur Suspense beiträgt. Es wird in dem Stück nie restlos klar, welche Figur die Wahrheit sagt, sehr passend zu unserer multiperspektivischen Welt zwischen Fake News und subjektiven Sichtweisen, in der so etwas wie objektive Wahrheit in Scherben liegt.

Von niederländischen Malern wie Vermeer oder Rembrandt inspiriert

Geht es wie immer bei Philipp Preuss bildgewaltig zu?

Die Bühne von Sara Aubrecht ist ein geheimnisvoller Raum, denn wir haben versucht, das Stück aus der puren Gerichtssituation zu lösen und universeller zu lesen. Die niederländische ostindische Kompanie mit ihrem Signet VOC, die in Südostasien mit zweifelhaften Methoden unfassbaren Reichtum abschöpft, spielt dabei für die Gestaltung eine große Rolle. Zudem haben wir uns ein wenig von Vermeer, Rembrandt und anderen holländischen Malern, die zur Zeit, in der Kleist das Stück angesiedelt hat, arbeiteten, inspirieren lassen.

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Wird die Musik wieder eine große Rolle spielen?

Kornelius Heidebrecht spielt die Figur des Gerichtschreibers Licht und macht gleichzeitig die Musik, er also ist der musizierende Schreiber bzw. der schreibende Musiker und hat für den Abend einen eigenen Score zwischen Elektropunk und Monteverdi komponiert. Die Kostüme von Eva Karobath sind historisch inspiriert, während die Videos von Konny Keller das 17. Jahrhundert mit unserer Medienrealität verbinden – sehr genial, sehr spannend, mehr kann ich dazu noch nicht sagen, das ist noch ein Geheimnis.

Am Freitag, 8. November, um 19.30 Uhr läuft die Vorstellung als „RuhrBühnen*Spezial“ . Das ist eine gemeinsame Aktion der Ruhrbühnen, die die Menschen mit dem breiten kulturellen Angebot der Theater in der Region vertraut machen soll. Die Tickets kosten an diesem Tag nur 15 Euro. Zudem sind die Zuschauer zu einem Nachgespräch mit Regisseur Philipp Preuss und dem Team eingeladen.

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