Mülheim. Den Großteil ihres Lebens verbrachte Anna (37) als David. Lange rang sie mit ihrer Identität, kam an einen Tiefpunkt. Dann änderte sich alles.
Ein bisschen muss Anna D. Merz schmunzeln. Sie erzählt von damals, als sie noch David war und von ihrem Bart, den sie vor Jahren noch hatte - „ein absolut lächerlicher Versuch, möglichst männlich zu wirken“. Im Winter verfingen sich die akkurat gestutzten Haare im Reißverschluss, tagtäglich waren sie eine Maske, ein Schutzschild. Wie lange sie schon etwas in sich unterdrückte, dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte, kann Anna heute gar nicht mehr so genau sagen.
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Die 37-Jährige sitzt in ihrer Wohnung, es ist warm. Bereitwillig erzählt sie äußerst Privates. Offenbart, wie es sich für sie anfühlt, nach jahrelangem Hadern festzustellen, dass sie sich als Frau fühlt. „Ich hatte immer das Gefühl, ein Geheimnis in mir zu tragen“, erinnert sich Anna zurück. Was genau das ist, kann sie lange nicht einordnen. „Ich habe mich hinterfragt und einen inneren Kampf geführt.“ Nur: Wofür sie kämpfte, das blieb lange unklar.
Anna wächst in Mülheim auf, liebt die Musik
Anna wird 1987 als David Merz geboren, wächst behütet in Mülheim auf, erlernt mehrere Musikinstrumente. „Die Musik war meine Rettung“, sagt sie heute. „Ich konnte alle meine Ängste in meine Gitarre, ins Schlagzeug oder ins Klavier stecken.“ Die Identifikation mit der Musik wächst, David spielt in Bands, macht das Hobby zum Beruf. „Ich war sehr besitzergreifend, was die Musik anging“, erinnert sich Anna an ihr altes Ich zurück. „Heute kann ich mir das auch erklären. Das war der eine Bereich in meinem Leben, den ich damals unter Kontrolle hatte. Und das wollte ich mir nicht wegnehmen lassen.“
Mittlerweile lebt Anna in Bremen, arbeitet als Berufsmusikerin. Mit Ende 20 setzt „ein Denkprozess“ ein, wie sie es heute nennt. Der Gedanke, im falschen Körper geboren zu sein und offen als Frau leben zu wollen, kommt Anna 2015 immer häufiger und lässt sie nicht los. Die Musikerin flüchtet sich in Arbeit, schläft nicht selten vorm Rechner ein, gerät in eine Depression. „Wenn ich so darüber nachdenke, ist das eigentlich traurig.“
Corona verändert alles: „Ich habe mich vor mir selbst geoutet“
2020 kommt Corona - das Virus, das die Welt verändert, auch für Anna. „Als der Lockdown kam und man vieles nicht mehr machen konnte, war ich gezwungen, mich mehr mit mir selbst zu beschäftigen.“ Vieles, was sonst ihren Alltag bestimmte, war vorerst nicht da. Das Hadern wird stärker. „Es war wie eine Schlinge, die sich immer fester um meinen Hals legte.“ Es vergehen einige Monate, ehe Anna am 18. Juni 2020 den ersten Schritt geht. „Ich habe mich vor mir selbst geoutet.“ Das Gefühl, sagt sie, wird sie nie vergessen. „Da habe ich das erste Mal seit vielen Jahren mal wieder zu mir gestanden.“
Im Sommer 2020 werden die Corona-Maßnahmen gelockert, Anna macht Urlaub auf Spiekeroog. Dort lässt sie einen „Testballon“ steigen. „Ich hatte Frauenkleidung und Make-up im Gepäck. ‚Dort kennt mich keiner‘, habe ich gedacht.“ Zum ersten Mal in ihrem Leben geht Anna erkennbar als Frau gekleidet in die Öffentlichkeit. „Es war einerseits total befreiend, andererseits total schräg.“ Als Jugendliche und junge Erwachsene gab es so gut wie keine Identifikationsfiguren für Anna.
Im Spiekeroog-Urlaub testet Anna das Rausgehen als Frau
Dass es für die Jugendlichen heutzutage anders ist, es viel Repräsentation und Diversität gibt, freut Anna. „Ich habe in meiner Jugend viel verpasst. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte nochmal 16 sein.“ Als sich Anna nach ihrem Spiekeroog-Urlaub bei ihren Eltern outet, ist sie mehr als doppelt so alt. „Sie haben es sehr gut aufgenommen und das werde ich ihnen nie vergessen.“ Es gibt aber auch die anderen Fälle - etwa den Freund, „der nichts damit anfangen kann“ und den Kontakt beendet. „Niemand möchte einen lieben Freund verlieren, aber das bin nun mal ich. Wer damit nicht leben kann, dessen Weg trennt sich von meinem.“
Anna outet sich schließlich öffentlich, bei Facebook. Fortan ist sie als Anna D. Merz unterwegs, das „D“ steht für David. „Ein Zugeständnis“, sagt Anna. „An die Menschen um mich herum, die mich als David kannten.“ Ihre Vergangenheit könne die 37-Jährige nicht auslöschen, „das will ich auch gar nicht“. Im Juni 2020, kurz vor ihrem Outing vor sich selbst, sei sie an einem absoluten Tiefpunkt gewesen, ihre Lage schien ihr aussichtslos. „Heute freue ich mich jeden Tag, dass ich mich anders entschieden habe.“ Zum Schluss, sagt Anna, sei sie als David sehr, sehr unglücklich gewesen. „Aber ich bin ihm dankbar. Ohne David hätte es Anna nie gegeben.“
Hormontherapie: nicht immer einfach, aber nur zeitweise
Seit anderthalb Jahren unterzieht Anna sich einer Hormontherapie. Dadurch sollen ihre Gesichtszüge und die Haut weicher werden, die Brust größer. „Es ist wie eine zweite Pubertät, ich bin schneller emotional, auch mal launisch und erkenne mich selbst manchmal gar nicht wieder.“ Manchmal noch ungewohnt, „aber ich weiß, dass dieser Zustand nicht ewig anhält“.
Was für die Zukunft geplant ist, weiß Anna selbst noch nicht genau. „Eins nach dem anderen.“ Eine Frage, der viele Transpersonen kaum aus dem Weg gehen können, teils auch wegen der forschen Neugier anderer, ist die nach der geschlechtsangleichenden Operation. „Das ist etwas sehr Persönliches und geht nur einen selbst und vielleicht noch den potenziellen Partner etwas an“, sagt Anna. Bald wolle sie ihren Namen auch amtlich ändern lassen - dafür sei bislang schlichtweg keine Zeit gewesen. „Und alles andere lasse ich auf mich zukommen.“
Nur eines, sagt Anna, bereut sie in dem ganzen Prozess. „Dass ich nicht schon früher zu mir gestanden habe. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Leben hat erst mit 33 so richtig begonnen.“
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