Moers. „Der Angriff Putins hat alles verändert“, sagt die Bundestagsabgeordnete Ulle Schauws (Grüne). Aber sie weiß auch: „Die Klimakrise wartet nicht.“
Ulle Schauws ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, ihr Zuhause ist der Wahlkreis Moers, Neukirchen-Vluyn, Krefeld Mitte/Nord. Matthias Alfringhaus (NRZ) hat sie unter anderem nach dem aktuellen Kurs der Grünen, dem Atomausstieg, den Auswirkungen des Krieges und den Menschen in ihrem Wahlkreis gefragt.
Mal ehrlich: Hätten Sie sich das Jahr 2022 vor einem Jahr so vorgestellt?
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Ulle Schauws: Nein. Dieses Jahr war eine Zäsur. Hätten ich und wir alle uns doch so nie vorstellen können. Krieg in Europa, ausgelöst durch den brutalen, völkerrechtswidrigen Angriff von Putin auf die Ukraine und seine Menschen – das hat alles verändert. Unsere Realitäten unseres alltäglichen Lebens hat es ebenso verändert wie unser politisches Handeln unter diesem Druck. Dringliche und oft schwere Entscheidungen zu treffen, vor denen man sich nicht wegducken kann, gab es 2022 sehr viele. Und was mich sehr fassungslos macht, ist das brutale Vorgehen von Regimen wie im Iran, in Afghanistan und anderen gegen die eigene Bevölkerung. Dieses Jahr ist darum ein Beginn: für einen entschlossen Einsatz für Frauen- und Menschenrechte. Das hat für mich international wie national oberste Priorität.
Welchen Einschnitt bedeutet Putins Krieg in der Ukraine für die Grünen?
Wir haben uns als Grüne intensiv und tief auseinandergesetzt mit dem, was dieser Krieg bedeutet und eine klare und überzeugte Haltung eingenommen: Wir verurteilen diesen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auf das Schärfste. Das Vorgehen Putins ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts. Wir Grüne stehen fest an der Seite der Ukraine, ihrer Bevölkerung und ihres in der UN-Charta verbrieften Rechts auf Selbstverteidigung, Freiheit und Selbstbestimmung. Aus dieser Überzeugung heraus gehen wir seit Februar mit allen Entscheidungen in Deutschland und Europa um. Eine besonders führende Rolle hat Annalena Baerbock, die als deutsche Außenministerin vom ersten Tag an mit klarem Kompass entschieden gehandelt hat. Sie gibt seither vielen Menschen Orientierung -- auch verbündeten Regierungen. Aber die Frage, was dieser Krieg den Menschen in den Kriegsgebieten und in Deutschland abverlangt, bleibt ja aktuell. Der Krieg geht weiter. Das erfordert eine hohe Verantwortung für jede Entscheidung. Da dürfen wir nicht nachlassen.
Atommeiler laufen länger, Kohlekraftwerke werden reaktiviert, Habeck kauft anderswo fossile Energie: Ihre Meinung dazu?
Ich finde richtig und sehr notwendig, schnellstmöglich die Abhängigkeit von fossiler Energie und Risikotechnologie zu beenden und den Ausbau der Erneuerbaren auf allen Ebenen zu beschleunigen. Das hätte vor vielen Jahren geschehen müssen, dann wäre unsere Ausgangslage eine bessere. Im Angesicht der Energiekrise werden Kohlekraftwerke jetzt zur Überbrückung eingesetzt. Ich kann das nur schwer hinnehmen, dennoch ist die Realität, dass wir die Absicherung vieler Menschen und wichtiger Infrastruktur mit sicherer Energieversorgung kaum anders hinbekommen. Anders sieht es bei der Atomkraft aus. Atomenergie ist und bleibt gefährlich. Sie ist auch nicht verlässlich, wie Frankreich zeigt. Der Atomausstieg wird im April 2023 beendet sein – keine neuen Brennelemente, kein neuer Atommüll, der als Risikomaterial noch Jahrhunderte lang strahlen würde. Ich finde in Zeiten wie diesen muss es darum gehen, mit aller Kraft gemeinsam Energie einzusparen und sich auf den unbürokratischen und schnellen Ausbau der Erneuerbaren zu konzentrieren und eine sichere, nachhaltige und klimafreundliche Zukunft zu gestalten. Keine neuen Risiken diskutieren, sondern den Stopp der Erderwärmung forcieren.
Haben Sie nicht manchmal Angst, die Grünen könnten in dieser Zeit ihre Seele verlieren?
Nein, das habe ich wirklich nicht. Es geht doch gerade darum, sich als politische Kraft den Realitäten zu stellen und immer wieder sehr ernsthaft nach Lösungen zu suchen. Wir Grünen sind als Partei entstanden aus verschiedenen Bewegungen, die alle gegen Krisen gekämpft haben. Sei es die Umwelt- , die Antiatom-, die Frauen- oder die Friedensbewegung. Es liegt in der DNA unserer Partei, in Krisen Lösungen zu finden und nicht mutlos zu werden. Das ist nicht leicht, aber gerade jetzt ist der Zusammenhalt der Grünen stark. Und ganz ehrlich macht mir Mut, wenn ich die Solidarität von Menschen für Geflüchtete, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für unsere wehrhafte Demokratie sehe. Also, ich habe keine Angst sondern denke, jetzt erst recht!
Wann können die Grünen zu den Themen zurückkehren, die ihnen wichtig sind?
Wir sind mittendrin. Denn die Klimakrise wartet nicht. Mit sehr ehrgeizigen Plänen für die Energiewende haben wir bereits wichtige Gesetze auf den Weg gebracht. Für uns Grüne und auch für mich stehen Menschen und deren Unterstützung im Mittelpunkt. Darum haben die Entlastung der Bürger*innen, die Unterstützung von Familien und Kindern, Gesetze, die eine gerechte und faire Verteilung schaffen, erst recht jetzt Priorität bei uns Grünen. In unserer vielfältigen und solidarischen Gesellschaft braucht es Gesetze, die den Menschen das Leben erleichtern und nicht erschweren. Wir haben mehr Fortschritt versprochen und arbeiten z.B. gerade an einer Modernisierung des Familienrechts, an der Stärkung der Selbstbestimmung eines jeden Menschen und mehr Geschlechtergerechtigkeit und Stabilisierung unserer demokratischen Institutionen. Hass und Hetze sowie dem Rassismus rechtsradikaler und -populistischer Kräfte setzen wir klare Grenzen.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Wahlkreis?
Ich bin am Niederrhein geboren und fühle mich sehr verbunden mit den Menschen, der Landschaft und mit unserem Dialekt. Egal, wo ich mich aufhalte, bin ich mir meiner Wurzeln bewusst und lasse auf meine Herkunft nichts kommen. Mein rheinisches Karnevals-Gen tritt in Berlin manchmal auch außerhalb der 5. Jahreszeit zutage. Das verstehen dann nicht immer alle, aber meine rheinische Frohnatur hat großen Spaß. Und was mir nie ausgehen darf: Rübenkraut. Für mich das Lebenselixier als Niederrheinerin.
Was nehmen Sie wahr: Welche Themen sind den Menschen im Moment besonders wichtig?
Die Energiekrise und die damit verbundenden hohen Kosten macht viele Menschen sehr besorgt. Aber auch die besorgniserregende Lage bei der medizinischen Versorgung, die Überbelastung in der Pflege, in Schulen und Kitas erzeugt Angst und auch Hilflosigkeit. Aber es gibt auch sehr viele Menschen, die sich sehr für andere einsetzen, helfen, spenden und sich im Bereich der Menschenrechte, dem Tierschutz und für Geflüchtete einsetzen. Weil sie es gerade jetzt für geboten halten.
Was halten Sie für so wichtig, dass Sie es 2023 umgesetzt sehen möchten?
Wir müssen vor allem die Gleichzeitigkeit der Krisen gelöst bekommen und in 2023 Gesetze auf den Weg bringen, die die Hürden für den Ausbau der Erneuerbaren abbauen. Die Kindergrundsicherung, Gesetze für mehr Selbstbestimmung, ein modernes Familienrecht im Sinne des Kindeswohls, die gesetzliche Stärkung der Gewaltprävention und des Gewaltschutzes und die Entlastung der Menschen, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind, haben Priorität. Ein Demokratiefördergesetz ist überfällig und ein modernes Einwanderungsgesetz ebenso.