Moers. Ein aus der Ukraine stammender Moerser Arzt bangt um Familie und Freunde in der Heimat. Warum Eltern und Schwester im Land bleiben wollen.
Seit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine am Donnerstag der vergangenen Woche ist die Angst ständiger Begleiter von Serhii Bihunov. Der Assistenzarzt am St. Josef-Krankenhaus in Moers bangt um seine Eltern und seine Schwester, um Freunde und Verwandte daheim, die unversehens im Krieg leben müssen. Dass sein Heimatland „einfach so“, wie er sagt, vom russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Krieg überzogen wird, macht den 37-Jährigen fassungslos.
Der Angriff habe seine Landsleute in der Heimat ebenso kalt erwischt wie die Ukrainer, die wie er im Ausland leben und arbeiten, erklärt Serhii Bihunov: „Niemand bei uns hat das für möglich gehalten.“ Noch vier Tage vor dem Einmarsch habe sein Vater am Telefon davon gesprochen, er müsse wohl ein paar Konserven als Vorrat in den Keller bringen. „Aber er hat das nicht ernst gemeint, es war ein Scherz, verstehen Sie. Er hat die Gefahr nicht kommen sehen. Kein Mensch hat das gesehen“, sagt Bihunov, dem man im Gespräch schnell anmerkt, wie aufgewühlt er ist. Immer wieder bebt seine Stimme.
Täglich mehrmals telefoniert Serhii Bihunov mit der Ukraine, ganz aktuell mit Freunden, die mit ihren Kindern drei Tage in einem Keller ohne Licht verbracht haben, um sich vor russischen Raketen zu schützen. Wann immer er kann, verfolgt er die Nachrichten, ruft zweimal am Tag seine Eltern an. Beide sind Mitte sechzig, sie leben mehr als 4000 Kilometer von Moers entfernt in einer Kleinstadt etwa in der Mitte der Ukraine. Geschossen wurde dort noch nicht, aber zwei-, dreimal am Tag flüchten die beiden bei Fliegeralarm in den Keller ihres Häuschens, erzählt Serhii Bihunov. Er hat ihnen vorgeschlagen, zu ihm nach Repelen zu kommen, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern lebt: „Aber sie wollen nicht. Sie wollen ihr Zuhause nicht aufgeben. Und sich in ihrem Alter in einem fremden Land und in einer fremden Sprache zurechtzufinden – das schaffen sie nicht.“
Die Schwester versorgt als Ärztin verletzte Soldaten
Auch für Serhiis Schwester ist das Verlassen des Landes keine Option. Sie arbeitet als Anästhesistin in einer großen Klinik in der Stadt Dnipro, gut 400 Kilometer südwestlich von der Hauptstadt Kiew. „Da kommen immer mehr verletzte Soldaten an, die versorgt werden müssen“, berichtet Bihunov. Seine Schwester hat ihm eine Wunschliste mit Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln geschickt. Der Arzt will hier so viel wie möglich davon kaufen und sammeln. Einige ukrainische und deutsche Kirchengemeinden und Organisationen in ganz Deutschland koordinieren den Transport an die polnisch-ukrainische Grenze und – soweit es der Krieg zulässt – von dort gezielt zu den Empfängern.
Serhii Bihunov würde sehr gerne mehr tun. Er ist Chirurg, war zunächst einige Jahre in Bayern tätig, bevor er im August 2021 mit seiner Familie nach Moers gezogen ist, um die Assistenzarztstelle am St. Josef-Hospital anzutreten. Nun ist er hin- und hergerissen. Er weiß, dass man ihn mit seinen Fähigkeiten in seiner Heimat gerade jetzt gebrauchen kann: „Ich habe überlegt, dass ich Überstunden und Urlaub nehme und vier Wochen als Arzt mit anderen Kollegen dort helfe.“ Aber Serhii Bihunov ist mit seinen 37 Jahren auch im wehrfähigen Alter. Er weiß nicht, ob man ihn nach einer solchen Mission wieder aus dem Land lassen würde: „Wissen Sie, ich habe in Moers zwei Kinder und meine Frau. Ich will nicht riskieren, zu ihnen nicht zurück zu dürfen.“
Angesichts der schlimmen Situation in der Ukraine tue die Unterstützung der letzten Tage doch auch gut, sagt Serhii Bihunov. Die Nachrichten von den Sanktionen und den Demonstrationen erreichen die Menschen in den Kriegsgebieten, Serhii berichtet ihnen auch davon am Telefon: „Sie sind dankbar, und wir hier sind es auch. Wir spüren diese Solidarität.“