Auf vielen Bühnen gespielt, oft vor der Kamera gestanden: Jetzt aber spielt Joanne Gläsel in Deutschlands kleinstem, festen Ensemble in Moers.
Eigentlich sollte es ja um die Krise des Theraters (Corona, toxische Mänlichkeit, Zuschauerschwund) gehen, aber das Gespräch mit der Schauspielerin Joanne Gläsel (immerhin ein Fünftel des Ensembles des Moerser Schlosstheaters wurde zu einer spannenden Zeit- und Deutschlandreise. Einsteigen bitte ins Gespräch zwischen Joanne Gläsel und Stephan Hermsen.
Wie kommt es, dass Ihre Homepage heißt: „Heben Sie das gut auf!“?
Das ist die Homepage für mein Projekt „Heben Sie das gut auf, das ist mein ganzes Leben!“. Mit diesen Worten hatte Charlotte Salomon ihr malerisches Werk einem befreundeten Arzt übergeben, bevor sie deportiert wurde. Das haben wir verkürzt zu hebensiedasgutauf.de.
Worum ging es?
Um die Malerin Charlotte Salomon. Sie ist in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren in Berlin aufgewachsen, im assimilierten jüdischen Großbürgertum. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg floh sie zu ihren Großeltern nach Südfrankreich. Dort wurde sie verraten und ist in Auschwitz umgekommen.
Eine Art Anne-Frank-Geschichte.
Ja, aber hier weit weniger bekannt. Sie hat über 1300 Gouachen gemalt und mehr als 750 dieser Farbbilder zusammengefasst zum Singespiel „Leben? Oder Theater?“; eine gemalte Familiengeschichte, mit Texten und Musik. Ihre Stiefmutter war eine berühmte Opernsängerin, deren steile Karriere durch die Machtübernahme der NSDAP endete. Das alles fließt da mit ein.
Sie haben – auch in Moers – mehrere Projekte über jüdische Künstlerinnen, gemacht, ihr Leben und Werk vorgestellt. Was reizt Sie daran?
Vor allem diese berührenden Biografien. Und es ist vielleicht meine Art, mich mit der deutschen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Bilder von Charlotte Salomon habe ich über Freunde meiner Eltern schon als 16-Jährige kennengelernt. Damals habe ich gerne gemalt. Als ich dann 1990 nach Berlin kam, besuchte ich eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau über jüdische Lebenswelten. Und da drehe ich mich um – und stehe vor diesen Bildern. Das war wie ein Schock, weil ich plötzlich begriff: Diese Bilder sind nicht etwas privates, sondern stehen in einem großen historischen Zusammenhang. Es reifte die Idee, daraus dieses Projekt zu machen: Ein-Personen-Stück, in dem ich mehr als zehn Rollen spielte.
Malen und Zeichen waren also eine ihrer frühen Leidenschaften – wann kam denn die Schauspielerei dazu?
Mit Zwölf habe ich gesagt: Ich möchte Schauspielerin werden. In der Schule in Bochum spielten wir „Parzival“. Ich war Feirefiz, sein schwarz-weißer-Halbbruder, stürmte auf die Bühne und forderte Parzival zum Duell. Mein Vater sagte hinterher: Als du aufgetreten bist, sind alle wieder wachgeworden. Ich denke, ich habe da Seiten rausgelassen, die ich sonst nicht so rausgelassen habe
Auf der Bühne sind Sie ein anderer Mensch?
Damals Ja, heute ist das nicht mehr so.
Haben Ihre Eltern Sie unterstützt im Wunsch Schauspielerin zu werden?
Ihre Haltung war ambivalent, etwas Sicheres wäre ihnen wohl lieber gewesen. Aber sie hatten meine Leidenschaft erlebt und haben mich letztendlich sehr unterstützt.
Dafür sind Sie von Bochum und Dortmund zunächst nach Hannover gegangen.
Dort wurde ich an der Schauspielschule angenommen. Auf einer dieser üblichen Aufnahmetouren. Damals wie heute gab es hunderte Bewerbungen für elf, zwölf Plätze. So etwa wie in dem Film „Kleine Haie“. Danach war ich zunächst am Theater Münster engagiert.
Und dann ging es nach Berlin…
Ich wollte unbedingt nach Berlin. Den Mauerfall habe ich „verpasst“, ich konnte leider nicht rechtzeitig dorthin kommen und wieder pünktlich zur nächsten Vorstellung zurück in Münster sein.
Woher kam dieses Interesse am Mauerfall und an Berlin?
Ich hatte so eine Phantasie: die Goldenen Zwanziger kommen wieder. Zur DDR hatte ich keine engere Verbindung, aber das für mich neue Land hat mich fasziniert. 1984 war ich mal in Westberlin und empfand damals die Mauer als sehr bedrückend. Ich habe den Wachtposten am Landwehrkanal in meiner Naivität zugewunken; das hat die nicht sehr beeindruckt.
Da war David Hasselhoff dann wirkungsvoller…
Ich fand es unangenehm, eingesperrt zu sein. 1990 hatte ich das Gefühl: Da entsteht eine riesige Großstadt, etwas Neues. Ich fand diese Zeit sehr spannend, habe Brandenburg erkundet, bin viel an die Ostsee gefahren, noch vor der Währungsunion, das war sehr unfertig, rau und unverputzt. Vielleicht hat es mich an das Graue und Raue der Kindheit im Ruhrgebiet erinnert. Aber ich bin auch mal plötzlich auf eine russische Militärstreife getroffen mit rotem Stern auf dem Patrouillenfahrzeug und dachte: Jetzt bin ich in den 40ern gelandet. Ein Zeitsprung.
Sie haben den Osten noch weiter erkundet und waren für einige Jahre in Dresden.
Nach meinem Engagement an der Berliner Schaubühne habe ich mich gefragt: Was interessiert mich denn? Ich wollte die „ostdeutsche Art“ Theater zu spielen intensiver kennenlernen.
Konnte man das unterscheiden? Theater West und Theater Ost?
Ich habe Schauspiel u.a. nach der Straßberg-Methode gelernt. Method-Acting, ein intensives Erforschen der Biografie und der Psyche des Menschen, den man spielt. Das Theater der DDR war sehr viel Brechtscher im Sinne von: ich zeige etwas. Es war stärker ausgerichtet an gesellschaftlichen Themen. Es ging nicht um die Frage, wo liegen die Konflikte im Leben einzelner Menschen, sondern eben: wie wirken sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Einzelnen aus?
Bräuchten wir das nicht viel häufiger?
Das würde mich jedenfalls interessieren. Ich kann sagen: In Moers wird interessanteres Theater gemacht als ich das von anderen Bühnenengagements her kenne. Da geht es nicht darum, „Jux auf der Bühne zu machen“, sondern eher zu gucken: Wo findet man Stücke, die abbilden, was uns gesellschaftlich beschäftigt? Wie lassen sich Fassaden aufbrechen, auch die Stücke aufbrechen? Zum Beispiel wie kann man zeigen, dass wir alle miteinander agieren und uns nicht ständig voneinander abgrenzen müssen? Ich bin so – du bist so, der ist so.
Spielen Sie jetzt auf die Gendertheorie an?
Nein, eher auf unser neues Stück „Über Menschen“ nach dem Roman von Juli Zeh. Das hat am 31. August Premiere. Sie zeigt dieses Grenzen überwinden an einem sehr heiklen Sujet: dem netten Neonazi-Nachbarn und dessen Tochter. Im Roman entsteht eine Verbindung der Erzählerin mit diesem Mann, immer im Hinterkopf, dass das ja eigentlich nicht geht. Aber was geht, wenn man trotzdem miteinander redet? Ohne dass man gleich den Anspruch hat, dass eine heile Welt entsteht. Das ist die Frage: Was verbindet uns – trotzdem? Uns trennt ohnehin zu viel.
Ist Moers die Rückkehr in die Heimat oder ist Heimat da, wo sie gerade ihre Garderobenhaken haben?
Beides. Ich mache mir die Orte, an denen ich wohne zur Heimat. Damals war Berlin meine Stadt, kulturell immer am Puls der Zeit. Die friedliche Atmosphäre am verhüllten Reichstag fällt mir ein. Was in den Nachrichten kommt, findet in meiner Stadt statt. Damals fand ich das toll. Vor ein paar Tagen war ich in Berlin und dachte: Puh, alles viel zu voll hier.
Diese Wiederentdeckung der Herkunftsheimat – wie kam die zustande?
Ich bin meistens Engagements hinterher gezogen. Moers hat angefragt, ich habe mich beworben – und ich bekam mitten in der Pandemie ein Engagement.
Haben Sie gebangt wegen Corona?
Ich kenne diese Unsicherheit ja Zeit meines beruflichen Lebens. Ich wollte nie mich unkündbar an ein Haus binden, ich wollte Abenteuer und möglichst viel Verschiedenes erleben. Das bedeutet auch, dass man kündbar ist und auf der Straße landen kann. Corona hat mich zwei Gast-Engagements gekostet. Aber es ging allen so und die finanzielle Unterstützung für Künstler hat bei mir funktioniert. Mir ist natürlich bewusst, dass viele Kolleg*innen deutlich schlechter durch diese Zeit gekommen sind. Ich fand das zu Anfang ganz gut, mal durchzuschnaufen. Aber natürlich fehlte mir dann doch etwas. Ich wollte wieder in ein festes Engagement kommen, irgendwo angebunden sein.
Jetzt sind Sie in der kleinsten Großstadt am kleinsten Stadttheater – nach so vielen großen Bühnen.
Ja, der Kontrast ist groß. Aber ich muss sagen: Sehr positiv, es sind fünf Schauspieler, wir sind insgesamt ein Team von gut 20 Leuten. Da ist man immer gefordert und permanent auf der Bühne, mit einem Ensemble, das sehr wach und an der politischen Gegenwart interessiert ist. Wir können auch mal spontan im Spielplan etwas verändern, um auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Und es ist ein sehr respektvolles Umfeld.
Das ist etwas, was die Theaterwelt sehr beschäftigt: Die Frage, wie vor allem Männer Machtpositionen ausfüllen und ausnutzen… Haben Sie das erlebt?
Ja klar! In den 80ern waren die Theater voll mit leitenden Persönlichkeiten, meist Männern, die oft auf die Frauen, vor allem die jüngeren Frauen, herabgeschaut haben. Das hat sich mittlerweile nivelliert. Vielleicht einer der Vorteile des Älterwerdens, dass mehr Kontakt auf Augenhöhe möglich ist. Früher hätte ich gesagt: Theater ist ein „Feudalbetrieb“, aber die heutigen jungen Kolleg*innen sind sehr selbstbewusst und daher ändert sich gerade was. Es tritt eine neue Generation an. Ganz ausgestorben sind diese Dinosaurier leider noch nicht.
Theater muss sich aber vielleicht noch auf andere Weise ändern: Das Publikum kehrt nach Corona nur zögerlich zurück. Was muss ein Theater tun, um wieder mehr Menschen zu gewinnen?
Ich merke auch an mir, dass ich den Hintern nicht mehr so schnell hoch bekomme. Vielleicht haben sich Viele an die tollen Serien gewöhnt. Ich hoffe, das ändert sich wieder und die Menschen merken, dass sie das Theater brauchen. Denn Theater heißt: live gemeinsam etwas erleben. Und neben anderem finde ich das kostbar und erhaltenswert. Darüber hinaus geht das Schlosstheater Moers raus und holt das Publikum an vielen ungewöhnlichen Spielorten ab. Es bietet auch Produktionen hybrid an: live gespielt und gleichzeitig gestreamt.
Apropos Serien: Warum ist Fernsehen so etwas anderes als eine Theaterproduktion?
Theater verlangt den Raum, das Agieren auf der Bühne und in den Zuschauerraum hinein, den ich mit Präsenz füllen muss. Wenn ich einen Film drehe, ist die Kamera mein Partner. Das ist für mich Hochleistungssport. Weil man oft sehr lange wartet und dann innerhalb von Sekunden voll da sein muss. Das ist wie Gehen auf dem Hochseil. Sich konzentrieren, denken, die Augen sprechen lassen. Das kostet mich immer sehr viel Disziplin. Ich arbeite gerne mit dem ganzen Körper.
Dafür sitzen Sie jetzt aber schon lange still.
Vielleicht kann ich diesen Drang inzwischen besser kontrollieren, seit damals, als ich als Zwölfjährige auf die Bühne gestürmt bin.