An Rhein und Ruhr. Die Politik diskutiert über Corona-Lockerungen. Doch wozu raten Lungenexperte Voshaar und Virologe Trilling? Die beiden Experten ziehen Bilanz.
Mit großer Spannung blicken viele Menschen auf die Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch. Denn wie eine durchgesickerte Beschlussvorlage zeigt, könnten dabei weitreichende Lockerungen in einem Drei-Stufen-Plan beschlossen werden. In dem letzten Schritt könnten zum 20. März laut dem Papier sogar nahezu alle Maßnahmen bis auf die Maskenpflicht fallen. Patrick Schuh hat mit den beiden Fachmännern Professor Mirko Trilling vom Uniklinikum Essen und Dr. Thomas Voshaar vom Bethanien-Krankenhaus in Moers unabhängig voneinander darüber gesprochen, ob diese Diskussion nicht zu früh kommt..
Die Bilder aus Dänemark haben Sehnsüchte geweckt. Lässt die Pandemie-Lage auch in Deutschland Lockerungen zu?
Dr. Thomas Voshaar: Unsere Datenlage zeigt, dass wir uns in einer vollkommen anderen Situation als in den vorangehenden Wellen befinden. Die Impfung bietet einen hervorragenden Schutz vor schweren Verläufen, allerdings schützt sie nicht vor Ansteckung und Übertragung. Wir haben kaum eine Möglichkeit, die Ausbreitung der Omikron-Variante zu beeinflussen, weil sie so ansteckend ist. Die hohen Inzidenzen haben aber keinen Bezug zu der tatsächlichen Krankheitslast: Eine Überlastung des Krankenhaussystems ist nicht absehbar – weder auf der Intensivstation noch auf der Normalstation. Auch die Sterbezahlen an Covid gehen seit sieben Wochen kontinuierlich zurück. Daraus ergibt sich, dass wir einige Maßnahmen an die aktuelle Situation anpassen sollten.
Prof. Mirko Trilling: Ich verstehe, dass die Menschen sich nach einer Situation wie vor der Corona-Pandemie sehnen. Die Zahlen steigen aktuell nicht weiter und gehen sogar leicht zurück. Ich erwarte, dass die Fallzahlen in der wärmeren Jahreszeit sinken und wir weniger Maßnahmen benötigen werden. Jetzt sind die Zahlen allerdings noch auf einem sehr hohen Niveau, und wir haben sehr viele Menschen in den Krankenhäusern. Ich würde derzeit dafür plädieren, umsichtig vorzugehen.
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In welchen Bereichen halten Sie Lockerungen für sinnvoll?
Voshaar: Zum Beispiel bei Zugangsbeschränkungen wie 2G, da wir wissen, dass auch geimpfte Menschen das Virus übertragen. Veranstaltungen an der frischen Luft kann man ohne Probleme laufen lassen, da die Infektionsübertragung dort so unglaublich gering ist, dass man sie nicht berücksichtigen muss. Ich glaube außerdem, dass man Infizierte nur noch so lange zu Hause lassen sollte, wie sie sich wirklich krank fühlen und die Quarantäne für Kontaktpersonen ganz aufgeben kann. Dann fehlt übrigens auch weniger Personal am Arbeitsplatz.
Trilling: Grundsätzlich sind Lockerungen sinnvoll, wenn man sich anhand der Hospitalisierung oder der Belegung von Intensivbetten regelmäßig fragt, ob man auf dem richtigen Weg ist. Dänemark hat festgestellt, dass es in der frühen Phase der Omikron-Welle doch nicht ohne Maßnahmen auskam. Man muss gewährleisten, dass es durch die Lockerungen nicht zu übermäßig vielen zusätzlichen Infektionen etwa auf größeren Veranstaltungen kommt und keine Probleme für das Gesundheitssystem entstehen.
- Das ist Professor Mirko Trilling
- Professor Dr. Mirko Trilling forscht am Institut für Virologie der Universitätsmedizin Duisburg/Essen.
- Nach dem Abitur studierte Trilling von 1998 bis 2004 Biologie an der FU Berlin. Schon währenddessen arbeitete er als Forschungs-Hilfskraft am Robert Koch-Institut in Berlin, an dem er auch seine Diplomarbeit verfasste.
- Im Rahmen der Pandemie hat er unter anderem gemeinsam mit Kollegen aus Wuhan an einer Antikörperstudie geforscht.
Wie sollten die Lockerungen durchgeführt werden?
Voshaar: Aus psychologischen Gründen wären wir gut beraten, nicht alle Maßnahmen sofort aufzugeben. Manch einer mag es sich sehnlich wünschen, dass wie in Dänemark ab dem nächsten Tag alles vorbei wäre. Auch von der Datenlage her mag das durchaus vertretbar sein. Aber es würde die Bevölkerung wahrscheinlich sehr irritieren. Ich halte es für vernünftig, einige Maßnahmen Stück für Stück zurückzunehmen. Wir sollten aber jetzt auch das regelmäßige Testen in Kitas und Schulen auf den Prüfstand stellen. Diese Testungen sind inzwischen nutzlos und erzeugen viel Leid bei Kindern.
Trilling: Ich finde es richtig, nicht alle Maßnahmen auf einen Schlag zurückzunehmen. Wir sollten genau prüfen, zu welchem Zeitpunkt wir welche Maßnahme gefahrlos aufheben können. Zudem sollten wir festlegen, anhand welcher Kennzahlen wir entscheiden, ob die Lockerungen in der richtigen Geschwindigkeit erfolgt sind und wir uns weitere Lockerungen „leisten“ können.
Laut einer Beschlussvorlage für die Ministerpräsidentenkonferenz könnten ab dem 20. März die Maßnahmen weitestgehend fallen. Ist das schon der richtige Zeitpunkt?
Voshaar: Man kann und sollte den Menschen jetzt wieder mehr Freiheit geben. Es hängt viel vom individuellen Schutzbedürfnis und der Selbstverantwortung ab. Eine Infektion mit Omikron verläuft bei Geimpften in der Regel fast symptomlos und stärkt gleichzeitig die natürliche Immunität enorm. Damit ist sie ein wichtiger Schritt in die sogenannte Endemie, also das Leben mit dem Virus.
Trilling: Der Blick auf die Zahlen aus dem letzten Jahr zeigt, dass im März leider noch nicht alles vorbei war. Auch im April gab es noch viele Ansteckungen. Aktuell ist der Omikron-Subtyp BA.2 zudem eine große Unbekannte, deren Einfluss auf das Infektionsgeschehen wir noch nicht genau verstehen. Wir sollten uns daher bei der Entscheidung an aktuellen Zahlen orientieren, um nicht einen Monat nach einer Lockerung feststellen zu müssen, dass wir zu mutig gewesen sind und deshalb länger als nötig in der Pandemiewelle hängen.
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Würden Sie den Menschen denn dazu raten, sich in gut einem Monat in ein Großraumbüro zu setzen, in ein volles Fußballstadion oder in die Disco zu gehen, nur weil es wieder erlaubt ist?
Voshaar: Wenn man staatliche Maßnahmen nicht mehr durch die Wissenschaft begründen kann, sollte jeder für sich selbst entscheiden können, wie viel der wiedergewonnenen Freiheit er in Anspruch nehmen möchte und wie viel Sicherheit er benötigt. Aber natürlich müssen die Menschen darüber aufgeklärt sein, in welchen Situationen eine höhere Ansteckungsgefahr besteht.
Trilling: Das Risiko hängt sehr von der individuellen Situation ab. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Mensch, der geimpft und geboostert ist, mit einer FFP2-Maske oder eine hochbetagte Person mit beeinträchtigtem Immunsystem ohne Maske in ein Stadion geht. Ich rate den Menschen, sich impfen und boostern zu lassen und sich umsichtig zu verhalten. Wir müssen dem Virus möglichst wenig Ausbreitungsmöglichkeit geben. Denn man setzt nicht nur sich selbst einem Risiko aus, sondern kann Dritte infizieren.
- Dr. Thomas Voshaar
- Thomas Voshaar leitet als Chefarzt die Lungenklinik des Bethanien Krankenhauses in Moers.
- Der Facharzt entwickelte in der ersten Welle ein mehrstufiges Behandlungskonzept, das als das „Moerser Modell“ durch die Medien ging, und erlangte damit breites Ansehen.
- Auch in der Politik haben die Einschätzungen von Dr. Voshaar Gewicht. Schließlich gehörte er zum Beraterkreis des früheren Bundesgesundheitsministers Jens Spahn.
Lediglich die Maskenpflicht würde laut der Beschlussvorlage am 20. März nicht fallen. Wie lange werden wir sie noch benötigen?
Voshaar: Ich bin überzeugt, dass man weiter gut beraten ist, in schlecht belüfteten Innenräumen mit vielen Menschen eine Maske zu tragen. Ob man es rechtfertigen kann, das in der jetzigen Welle noch staatlich zu verordnen, bezweifle ich allerdings.
Trilling: Wir haben klare Beweise, dass Mund-Nasenbedeckungen – und vor allem FFP2-Masken – einen großen Schutz vor dem Virus bieten. Sie sind zwar etwas unangenehm, aber sie wirken nun mal verdammt gut. Falls man bestimmte Aktivitäten gar nicht machen darf oder nur mit der Maske, dann ist Letzteres doch offensichtlich das kleinere Übel.