Kreis Wesel. Durch Dattelns Bürgermeister André Dora ist das Thema Inobhutnahmen in den Fokus gerückt. Auch im Kreis Wesel sind die Zahlen deutlich gestiegen.
Mit einem Brandbrief an Bundesfamilienministerin Lisa Paus hatte Dattelns Bürgermeister André Dora kürzlich seinem Ärger über die prekäre Lage bei den Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen öffentlich Luft verschafft. Insbesondere in Sachen Inobhutnahmen sei die Lage kaum noch zu stemmen uns es bedürfe mitunter einen immensen Aufwand, um eine passende Einrichtung für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu finden, schilderte der SPD-Politiker darin.
Auch im Zuständigkeitsbereich des Jugendamts für den Kreis Wesel (dazu gehören die Kommunen Alpen, Hamminkeln, Hünxe, Neukirchen-Vluyn, Schermbeck, Sonsbeck und Xanten) ist die Zahl der Inobhutnahmen deutlich gestiegen, wie das Jugendamt in seinem Jahresbericht 2023 aufzeigt, der in der vergangenen Woche im Ausschuss für Kinder- und Jugendhilfe der Politik zur Kenntnisnahme vorgelegt wurde.
Gefährdungseinschätzungen im Kreis Wesel mehr als verdreifacht
Seit 2019 hat sich die Zahl der Inobhutnahmen in den sieben genannten Kommunen von 44 auf 115 Fälle gesteigert. Dazu muss man allerdings wissen, dass diese Zahl während der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr 2021 auf 41 gesunken ist, aber schon 2022 auf 78 gestiegen war – nun folgte ein weiterer starker Anstieg. Noch eklatanter ist allerdings die Entwicklung bei den Gefährdungseinschätzungen für Kinder, die sich von 200 im Jahr 2019 auf 633 im vergangenen Jahr mehr als verdreifacht haben.
„Die Sensibilisierung der Gesellschaft ist auch durch die Medienberichterstattung erhöht worden. Ein weiterer Faktor sind unter anderem die erhöhten Fallzahlen kinderpornografischer Gewaltdelikte“, erklärt das Jugendamt in seinem Jahresbericht zu den Gründen für diese Entwicklung.
Erstellung eines Hilfe- und Schutzplans im Kreis Wesel
Besonders bei kleinen Kindern wird das Jugendamt früh tätig: „Insbesondere bei Familien mit sehr jungen Kindern fällt die gesetzlich vorgeschriebene Risikoeinschätzung bei Gefährdungshinweisen zugunsten der Sicherheit des jungen Kindes aus.“ Bei einem erkennbaren Hilfebedarf werde eine erzieherische Hilfe eingesetzt, „um das Risiko mit den Eltern und den Fachkräften der freien und öffentlichen Jugendhilfe einzuschätzen und möglichst abzubauen“, heißt es im Bericht.
Zu gegebenem Anlass werde ein Hilfe- und Schutzplan erstellt, an dem alle beteiligt sind, die mit dem jeweiligen Kind zu tun haben. „Der Aufbau einer Schutz- und Verantwortungsgemeinschaft erhöht die Sicherheit der Kinder in ihren Familien. Der Schutzplan wird regelmäßig und engmaschig auf seine Einhaltung überprüft“, betont das Kreis Weseler Jugendamt.
Ein Kind oder Jugendlicher wird in Obhut genommen, wenn:
- das Kind oder die/der Jugendliche um Obhut bittet
- eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des/der Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann
- ein ausländisches Kind oder ein/e ausländische/r Jugendliche/r unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten
„Kinder und Jugendliche erhalten während der Inobhutnahme Unterstützung in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie. Die hohe Anzahl notwendiger Inobhutnahmen spiegelt sich ebenfalls in gestiegenen Kosten wider“, erklärt das Jugendamt. Die Entwicklung bei den Fallzahlen spiegelt sich auch in den Ausgaben wider: Die Kosten für die Inobhutnahmen sind im Vergleich von 2022 (rund 224.000 Euro) zu 2023 (gut 400.000 Euro) um knapp 80 Prozent gestiegen.
Für ein Mädchen bei über 100 Einrichtungen angerufen
Die Lage „ist so schlimm, wie der Dattelner Bürgermeister schreibt“, bestätigt Tanja Witthaus, Leiterin der Verwaltung des Jugendamts im Kreis Wesel, auf Nachfrage von Richard Stanczyk (SPD), im Ausschuss für Kinder- und Jugendhilfe. Vor einiger Zeit gab es einen Fall eines zehn- oder elfjährigen Mädchens, für das die Mitarbeitenden des Jugendamts über 100 Einrichtungen angerufen haben, um eine passende Unterbringung für das Mädchen zu finden, erinnert sich Witthaus. „Da haben sich ganze Teams mit nichts anderem beschäftigt, als eine Einrichtung für dieses Mädchen zu finden.“
Weitere Inobhutnahmeplätze geschaffen
Die Dauer einer Inobhutnahme könne stark variieren. „Manchmal sind es nur zwei Tage, es kann aber auch ein halbes Jahr sein, teilweise auch länger“, erklärt Witthaus. „Wir versuchen immer, eine möglichst schnelle Lösung zu finden, in manchen Fällen müssen wir aber das Familiengericht einschalten.“
„Die Situation ist schwer und wird noch eine lange Zeit schwer bleiben.“
Die Zahl der Gefährdungseinschätzungen sei besorgniserregend, aber die Tendenz weiter steigend, sagt die Verwaltungsleiterin. Die Plätze für die Inobhutnahmen seien über das gesamte Kreisgebiet verteilt, teilweise auch darüber hinaus, zuletzt hat das Jugendamt drei Inobhutnahmeplätze dazu „gekauft“.
„Die Situation ist schwer und wird noch eine lange Zeit schwer bleiben. Es gibt Personalmangel – deswegen schließen so viele Gruppen – aber wir haben in unserem Zuständigkeitsbereich Träger, die den Weg mit uns gehen. Da sind wir froh und dankbar, dass sie uns viele Kinder abnehmen“, betont Witthaus.