Kleve. Überlastung, absurde Rechtsstreitigkeiten, Stress mit dem Gesundheitsamt: Der Klever Hausarzt Paul Ingolf Hötger kann so nicht mehr arbeiten.

So geht es nicht weiter. Paul Ingolf Hötger kann unter diesen Bedingungen nicht arbeiten. An seiner Hausarztpraxis an der Hohen Straße in Rindern hat er ein Din-A4-Blatt aufgehängt: „Streik! Diese Praxis wird zur Zeit bestreikt“ ist darauf zu lesen. Auch wenn er weiß, dass er gar nicht streiken darf, möchte der Allgemeinmediziner ein Zeichen setzen: „Wofür mache ich das eigentlich? Und warum mache ich das alles noch?“ Im Gespräch mit der NRZ berichtet er ausführlich über seine Situation.

Viele Patienten suchen einen neuen Hausarzt

Für Paul Ingolf Hötger, der 2020 die Praxis von Dr. Lingens in Kleve-Rindern übernommen hat, sind es schwere Zeiten. Privat hat er einen Schicksalsschlag zu verkraften und nach der Schließung der Nachbarpraxis von Dr. Pelzer, Kroll und Oster stehen die Patienten förmlich Schlange, um bei ihm aufgenommen zu werden. Was zuvor bis zu sieben Ärzte in der Gemeinschaftspraxis Pelzer geleistet haben, bleibt jetzt zu einem Teil an ihm hängen. Der Allgemeinmediziner will den Menschen helfen, aber alle lassen sich auch nicht aufnehmen. Jedes Quartal sieht er im Schnitt 2000 Patienten mindestens einmal. Die Kassenärztliche Vereinigung fragt ihn: Wie viele Patienten kannst Du noch aufnehmen? „Ich weiß es nicht. So viele, bis es irgendwann nicht mehr geht.“

Praxis Hötger
Der Streikhinweis in der Praxis. © NRZ | Andreas Gebbink

Besonders belastend ist ein irrwitziger Rechtsstreit vor dem Weseler Arbeitsgericht mit einer ehemaligen Angestellten. Seit bald zwei Jahren zieht sich das Verfahren hin, welches immer absurder werde. Die Angestellte habe er aufgrund grober Fehler entlassen müssen und nach Abfindungen und Vergleichsangeboten geht es jetzt um ein Arbeitszeugnis. Seit acht Monaten schreibe er mit dem Gericht und dem Anwalt hin und her. Es ging um Kommas, um Formulierungen - und jetzt um seine Unterschrift. Die sei angeblich „nicht richtig“. Der Anwalt der Gegenseite behaupte, dass es sich dabei um eine Kinderunterschrift handele, die man so nicht akzeptieren könne.

„Das ist meine Unterschrift, damit habe ich meinen Ehevertrag unterschrieben.“

Paul Ingolf Hötger muss sich vor einem Arbeitsgericht für seine Unterschrift rechtfertigen.

+++ Abonnieren Sie den Kanal NRZ Kleve auf WhatsApp +++

Kuriose Rechtsstreitigkeit um seine Unterschrift

Diese Gängelei ist für Hötger zu viel: „Das ist meine Unterschrift, damit habe ich meinen Ehevertrag unterschrieben, meine notariellen Urkunden, die Unterschrift ist in Berlin bei der Bundesopiumstelle hinterlegt“, sagt er. Der Mediziner unterschreibt wichtige Dokumente in leserlichen Druckbuchstaben und setzt seinen typischen Ärztekringel dazu.

Praxis Hötger
Um diese Unterschrift von Paul Ingolf Hötger geht.  © NRZ | Andreas Gebbink

Dass er jetzt eine andere Unterschrift wählen soll, sei zuviel. Das Arbeitszeugnis habe sich die ehemalige Angestellte selbst geschrieben und er würde es auch einfach um des lieben Friedens willen unterschreiben. Aber eine derartige Demütigung will er nicht länger hinnehmen. Der Anwalt der Gegenpartei hat ihm gedroht, dass er dafür ins Gefängnis kommen könne: „Aber das nehme ich in Kauf. Dafür gehe ich auch ins Gefängnis. So lasse ich mich nicht behandeln. Ich habe nicht sechs Jahre Medizin studiert und dreieinhalb Jahre Zahnmedizin, um mir am Ende sagen zu lassen, wie ich meine Unterschrift zu setzen habe“, sagt der Hausarzt.

„Ich kann die Behandlungsliege einfach abbauen und meine Leistungen weiter einschränken. “

Paul Ingolf Hötger verzweifelt an der Bürokratie.

Waschbecken im Behandlungszimmer wurde bemängelt

Paul Ingolf Hötger verzichtet bewusst auf einen Anwalt. Er habe es doch mit einem Akademiker zu tun, mit dem man sich vernünftig einigen können muss, denkt er sich. Der ganze Rechtsstreit führe zu nichts. „Da verlässt mich das Verständnis. Wir müssen uns fragen: Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Worum geht es denn hier eigentlich?“ Das Arbeitszeugnis sei einmal von einer Obergerichtsvollzieherin abgeholt worden. Das habe 63 Euro gekostet.

Neben dem arbeitsrechtlichen Ärger muss sich Hötger auch noch mit dem Gesundheitsamt herumschlagen. Er wurde anonym angezeigt. Bei einem Besuch des Amtes wurden unter anderem ein Waschbecken in einem Behandlungszimmer bemängelt und ein Teppich, der an der Wand hängt. Dieser sei nicht hygienisch genug, weil man ihn nicht abwischen könne. Der Teppich solle weg, ebenso müsste das Waschbecken ausgetauscht werden. Hötger hat eine einfache Lösung: „Ich kann die Behandlungsliege einfach abbauen und meine Leistungen weiter einschränken. Dann ist das eben kein Behandlungs-, sondern ein Sprechzimmer. Dann überweise ich eben mehr ins Krankenhaus. Ich muss das nicht alles machen. Wir schaffen uns gerade ab“, sagt er verärgert.

Lesen Sie auch diese Nachrichten aus Kleve und dem Umland

400 Kilometer fahren für den hausärztlichen Notdienst

Als Hausarzt trägt Hötger eine enorme Verantwortung für seine Patienten. Aber die eigentliche, medizinische Versorgung steht oft gar nicht mehr im Mittelpunkt seiner Praxis. Da geht es vielmehr um Abrechnungsmodalitäten, Dokumentationen, um den Internetanschluss, der gerade nicht funktioniert oder technische Geräte, um die man sich kümmern muss. Ohne Internet kein E-Rezept, kein Telefon, kein Doctolib. Nach einem Personalumschwung in der Praxis bleibe vieles am Arzt hängen.

Dabei sei der ärztliche Alltag so schon stressig genug. Nicht nur, dass hunderte Patienten anklopfen, weil sie einen Hausarzt suchen, auch die Belastungen in Altenheimen oder bei Wochenend-Diensten seien enormen. Hötger erzählt, dass die Schichten für den hausärztlichen Notdienst sehr unterschiedlich ausfallen können. Er sei an einem Wochenende gut 400 Kilometer gefahren, weil sein großes Einsatzgebiet zwischen Kleve, Uedem, Goch, Elten, Kranenburg und Haldern liege. In diesem System gehe es nur um Effizienz und um Zahlen. Grundsätzlich sei das ja auch vernünftig. Aber das Limit des Zumutbaren sei erreicht. Über zulässige Lenkzeiten am Steuer etwa mache man sich da gar keine Gedanken.

Dr. Lingens hilft im Altenheim aus

Ein Altenheim habe er schon an einen Kollegen abgeben können. Grundsätzlich ist Hötger verpflichtet, seinem Versorgungsauftrag nachzukommen. Für das Veronika-Haus in Rindern hat er jetzt seinen Kollegen Dr. Heinz-Gerd Lingens (69) aus dem Ruhestand holen können. Er hat sich mit ihm darauf verständigt, einmal pro Woche die ärztliche Betreuung des Altenheims zu übernehmen. Darüber ist Hötger sehr dankbar.

„Eine Tierärztin würde dafür keinen Hund behandeln.“

Paul Ingolf Hötger über die Vergütung für ein kleinen chirurgischen Eingriff.

Im Schnitt sieht der Hausarzt in Rindern 45 Patienten am Tag, jeder Vorgang müsse dokumentiert werden und auch rechtssicher sein.

8,12 Euro für einen kleinen chirurgischen Eingriff

Besonders ärgerlich seien die geringen Sätze, zu denen Ärzte abrechnen dürfen: Die Gebührenordnung für Ärzte stamme aus Anfang der 90er Jahre. Für die Entfernung eines Hühnerauges bekomme er 8,12 Euro. „Eine Tierärztin würde dafür keinen Hund behandeln“, sagt Hötger. Eine Fußpflegerin würde für das Geld kein Hühnerauge entfernen. Wenn bei ihm technische Geräte kaputt gehen, überlege er sich dreimal, ob er sie ersetzen soll. So müsse er allein für ein Langzeit-EKG-Gerät mit Software 2500 Euro bezahlen. Dafür habe er dann deutlich mehr Arbeit. Sollte das Gerät kaputt gehen, werde er kein neues anschaffen. Auch das eigene Sterilisationsgerät werde er vermutlich bei Defekt nicht ersetzen: „Dann stelle ich eben die Wundversorgung ein und nähe keine Wunden mehr zu“, sagt Hötger. Es lohne sich einfach nicht.

In der nächsten Woche möchte der Hausarzt wieder arbeiten, aktuell werden auch weiterhin Rezepte und Überweisungen ausgestellt. Er habe ein enorm schlechtes Gewissen gegenüber seinen Patienten.