Kleve. Halb- und Unwahrheiten werden eine Menge verbreitet in der Diskussion um den Nationalpark Reichswald. Ein Versuch der Aufklärung.

Über einen möglichen Nationalpark Reichswald wird von Beginn an leidenschaftlich debattiert. Podiumsdiskussionen wurden organisiert, mehrere Sitzungen in den Kreistagsgremien hat es zu dem Thema gegeben und jetzt geht es beim laufenden Bürgerentscheid um die finale Frage, ob eine Mehrheit der Kreis Klever Bürger für die Ausweisung des Reichswaldes als Nationalpark ist.

Leider kursieren im Internet zahlreiche Un- und Halbwahrheiten, die die Entscheidungsfindung für oder gegen einen Nationalpark nicht gerade erleichtern. Die NRZ-Redaktion hat deshalb einen Faktencheck zusammengestellt, der sich auf Informationen des NRW-Umweltministeriums, der Bezirksregierung Düsseldorf und des Kreises Kleve stützt. 

Behauptung 1: In Kleve verlieren die Menschen ihr gesundes Trinkwasser, wenn der Reichswald zu einem Nationalpark wird.

NRW-Umweltministerium: „Nationalparkverordnungen können Regelungen für den Bestandsschutz von Trinkwasserversorgungsanlagen enthalten. Die Wasserversorgung vor Ort wird durch die mögliche Ausweisung eines Nationalparks nicht gefährdet. Sollte ein förmliches Ausweisungsverfahren gestartet werden, wird die bestehende Trinkwasserversorgung der Bevölkerung aus dem Reichswald in jedem Fall sichergestellt, da es sich hierbei um ein überragendes Interesse handelt. Im Rahmen dieses möglichen Ausweisungsverfahrens findet ebenso eine Beteiligung der Wasserwerksbetreiber und zuständigen Wasserbehörden statt. Sollten hinsichtlich der künftigen Anforderungen an die Trinkwasserversorgung neue Brunnen oder Änderungen der baulichen Anlagen notwendig werden, so ist auch dies möglich. Im Rahmen des möglichen Ausweisungsverfahrens findet eine Beteiligung der Wasserwerksbetreiber und zuständigen Wasserbehörden statt.“

Bezirksregierung Düsseldorf: „Die Vermutung, dass die Regelungen im Nationalpark die Grundwasserqualität beeinträchtigen könnten, ist nach allen bisherigen Erkenntnissen unbegründet.“ 

Reichswald Kleve
Reiter im Klever Reichswald.  © NRZ | Andreas Gebbink

Behauptung 2: Große Teile des Naherholungsgebietes Reichswald dürfen nicht mehr betreten werden.

NRW-Umweltministerium: „Das Naturerlebnis der Bevölkerung gehört ausdrücklich zu den gesetzlichen Aufgaben von Nationalparken. Ein Nationalpark steht grundsätzlich allen Menschen ganzjährig kostenlos offen und kann auf eigene Faust oder im Rahmen von geführten Touren erlebt werden. Welche Regeln und Schutzbestimmungen in einem Nationalpark erforderlich sind, variiert je nach den konkreten Bedingungen im entsprechenden Nationalpark und wird jeweils in einer individuellen Nationalparkverordnung in den Regionen spezifiziert. Es ist möglich und erwünscht, Nationalparke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, soweit der Schutzzweck dies erlaubt. Dieser besteht darin, die Natur frei von menschlichen Einflüssen sich selbst zu überlassen.

Entscheidend ist touristische Aktivitäten auf bestimmte Bereiche zu beschränken. So werden mitunter bestehende Wege, die ungeachtet der Überlegungen zur Ausweisung eines Nationalparks vorrangig zur Bewirtschaftung angelegt und unterhalten wurden, zurückgebaut. Hierfür können für alle Nutzergruppen zielgruppenspezifisch Wegeplanungen durchgeführt werden. Auch hier erfolgt die konkrete Ausgestaltung der verbindlichen Regelungen im Rahmen des partizipativen förmlichen Ausweisungsverfahrens und einer individuellen Nationalparkverordnung.“

Behauptung 3: „Bestens ausgebildete Spezialisten (Förster / Waldarbeiter) verlieren den Job.

Umweltminister Oliver Krischer: „Niemand verliert seinen Arbeitsplatz, im Gegenteil. Das Beispiel Eifel zeigt, dass durch einen Nationalpark am Ende mehr Menschen Arbeit finden. Die Mitarbeiter der Forstverwaltung können, wenn sie möchten, in die Nationalparkverwaltung wechseln. Alle werden übernommen. Das ist bei allen Wald-Nationalparken in Deutschland so gewesen. Insofern muss niemand um seinen Arbeitsplatz fürchten. Ganz im Gegenteil. Durch die zusätzlichen Angebote wird mehr Personal benötigt, zum Beispiel in der Umweltbildung. Für viele Projekte können auch Fördermittel der Europäischen Union eingeworben werden.“

Behauptung 4: Die Bürger des Kreises Kleve müssen über die Kreisumlage Geld für Ranger zahlen.

NRW-Umweltministerium: „Durch die Einrichtung eines Nationalparks werden keine anderen Mittel gekürzt und keine Einsparungen an anderer Stelle erforderlich. Die Mittel für die Einrichtung und Unterhaltung eines Nationalparks kommen aus dem Naturschutzhaushalt des Landes Nordrhein-Westfalen. Für die vier Städte und Gemeinden ergäben sich durch einen Nationalpark keinerlei finanzielle Verpflichtungen.

Untersuchungen über die Wirtschaftlichkeit der deutschen Nationalparke zeigen, dass sich jeder Euro, der aus Fördermitteln in die jeweilige Region fließt, mehrfach für diese bezahlt macht. Neue Arbeitsplätze und Steuereinnahmen (z.B. Gewerbesteuer) kommen der Region und den Kommunen direkt zugute. Vor allem aus Sicht der Region handelt es sich bei einem Nationalpark – entgegen anderslautender Behauptungen – um ein sehr lohnenswertes, dauerhaftes Instrument zur Strukturförderung.“

Behauptung 5: Der Nationalpark schädigt das Klima, da das Holz ungenutzt verrottet und CO2 freisetzt.

NRW-Umweltministerium: „Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Wälder in einem Alter zwischen 15 und 800 Jahren CO2 dauerhaft aus der Atmosphäre aufnehmen und speichern. Der Kohlenstoff wird in den Bäumen selbst und im Boden eingelagert. Verrottende Bäume geben einen Teil ihres Kohlenstoffes wieder ab, jedoch wird ein erheblicher Anteil zu Humus, welcher als Teil des Waldbodens den Kohlenstoff dauerhaft speichert (LUYSSAERT, S. et al.(2008): Old forests as global carbon sinks, Nature Vol. 455: 213 – 215).“

Werbung für Nein zum Nationalpark
Der Widerstand gegen den Nationalpark ist groß - gerade bei Landwirten. © NRZ | Johannes Kruck

Behauptung 6: Es gibt EU-Vorschriften, die vorschreiben, dass „75 Prozent der Fläche für Nationalparks unberührt bleiben müssen“.

NRW-Umweltministerium: „Es gibt keine EU-Vorschrift mit einem 75-Prozent-Ziel. Die weltweit anerkannte Kategorisierung von Schutzgebieten wurde von der Internationalen Union zum Schutz der Natur (IUCN) entwickelt. Das nicht verbindliche 75-Prozent-Ziel ist Bestandteil der Management-Empfehlungen der IUCN. Diese werden zwar in Nationalparken angestrebt, maßgeblich sind aber die Voraussetzungen des Bundesnaturschutzgesetzes. Demnach sollen Nationalparke auf dem überwiegenden Teil der Fläche eine natürliche Entwicklung ermöglichen und fördern. Im Bundesnaturschutzgesetz steht weder das 75-Prozent-Ziel noch eine Marke von 10.000 Hektar. Im „Niederrheinischen Tiefland“ liegt der Waldanteil bei unter 10 Prozent, es gibt kaum größere Waldkomplexe. Damit gehört diese Landschaft zu den waldärmsten Bereichen Nordrhein-Westfalens. Hier kommt dem Reichswald mit rund 5.100 Hektar Wald, die zudem kompakt gelegen sind, eine besondere Bedeutung als großräumiges Waldgebiet zu.“ 

Behauptung 7: Die Zäune im Reichwald müssen abgebaut werden.

NRW-Umweltministerium: „Generell sind (Schutz-)Zäune in Nationalparkgebieten zu verschiedenen Zwecken einsetzbar. Je nach Zweck und Anforderung kann die Beschaffenheit der Zäune variieren. Eine Beibehaltung des Gatters, welches aktuell knapp drei Viertel des Reichswaldes umfasst, ist möglich. Ein Lösungsansatz in Bezug auf Wildwechsel kann beispielsweise die Variation der Zaunhöhe sein, wie sie an der Grenze zu den Niederlanden praktiziert wird. Hier können Zaunhöhen gewählt werden, welche weiterhin den Wechsel von Rotwild ermöglichen, gleichzeitig allerdings zu hoch sind für Schwarzwild.

Aktuell ist fast der gesamte Reichswald eingezäunt. Um den Wildwechsel innerhalb des Reichswaldes zu gewährleisten, verfügt der Zaun entlang der Grunewaldstraße sowie der B504 streckenweise über Öffnungen. Schon heute wird insbesondere an der Grenze zu den Niederlanden die Durchlässigkeit des Zaunes für verschiedene Wildtierarten differenziert. Hier ist weiterhin der Wechsel von Rotwild möglich, gleichzeitig wird Schwarzwild an einer Querung gehindert.“

Behauptung 8: Das Kalken des Waldbodens sei in einem Nationalpark nicht zulässig, das gefährde wegen der hohen Nitratwerte das Grundwasser.

Umweltministerium: Das Umfeld des Reichswaldes ist ein „mit Nitrat belastetes Gebiet“ nach § 13a Düngeverordnung. Die Gründe für die Eutrophierung sind sicherlich vielfältig, eine wesentliche Rolle nimmt jedoch die intensive Landwirtschaft ein. Der Umbau von Nadelforst in Laubwald in einem Nationalpark führt zu einem günstigeren Humusaufbau im Boden, was eine Verlagerung von Nitrat in das Grundwasser vermindert. Laubbäume filtern außerdem weniger Stickstoffverbindungen aus der Luft aus als Nadelbäume und ihre tieferen Wurzeln halten Stickstoff aus dem Sickerwasser stärker zurück. Vor diesen Hintergründen ist es nicht nachvollziehbar, in der möglichen Ausweisung eines Nationalparks eine Gefährdung zu sehen – im Gegenteil hätte ein Nationalpark eine Schutzwirkung für die Trinkwasserqualität im Reichswald.

Behauptung 9: Das Land plant schon eine Ausweitung des Nationalparks auf landwirtschaftliche Flächen. Dem Landesumweltministerium seien „Ausgleichserweiterungsflächen“ vorgestellt worden.

Umweltminister Oliver Krischer: „Das ist frei erfunden. Mir ist nichts dergleichen vorgestellt worden und es gibt auch keine Überlegungen, den Nationalpark über die bekannte Flächenkulisse hinaus zu erweitern, die sich ausschließlich auf den Staatswald, also auf die Eigentumsflächen des Landes Nordrhein-Westfalen bezieht. Alle anderen Behauptungen, dass es Überlegungen, Planungen oder irgendetwas gibt, was eine Erweiterung beinhaltet, die dann auf Flächen Dritter zugreift, sind freie Erfindungen. Das kann ich in aller Deutlichkeit sagen.“

Behauptung 10: Alle Parteien haben sich gegen einen Nationalpark im Kreistag ausgesprochen.

Kreis Kleve: Während der Kreistagssitzung am 26.09.2023 gab es folgendes Abstimmungsergebnis: Die CDU-Kreistagsfraktion stimmte mit 25 Mitglieder gegen das Bürgerbegehren. Die FDP stimmte mit 4 Mitgliedern dagegen, von den Vereinigten Wählergemeinschaften kam eine Gegenstimme und auch der Landart Christoph Gerwers stimmte gegen das Bürgerbegehren.

Von der SPD-Fraktion stimmten 12 dafür, von den Grünen gab es 11 Ja-Stimmen, das Kreistagsmitglied Norbert Hayduk (Die Linke) stimmte dafür und von der Vereinigten Wählergemeinschaft gab es eine Ja-Stimme.

Die AfD enthielt sich mit zwei Mitglieder der Abstimmung.

Herbst im Reichswald Kleve
Soll der Reichswald ein Nationalpark werden? © NRZ | Johannes Kruck

Behauptung 11: Für einen Nationalpark müssten 200.000 Bäume gefällt werden.

Umweltministerium: Bei Nationalparken in Deutschland handelt es sich zum Zeitpunkt der Ausweisung in der Regel zunächst um sogenannte Entwicklungsnationalparke, da die Nationalparkverwaltung - wo erforderlich - die Ausbreitung der heimischen Laubwälder und die Entwicklung naturnaher Lebensräume unterstützt. Hierzu werden Nationalparkpläne mit entsprechenden Maßnahmen erarbeitet, die umfangreich mit der Region bzw. den Nationalparkgremien abgestimmt werden. Ein schonender Umbau von Nadel- zu Laubwaldbeständen ist hierbei eine mögliche Maßnahme, die dem Naturschutz dient und in diesem Zuge auch eine Holzentnahme bzw. verkauf ermöglicht. Da die detaillierte Ausgestaltung der Maßnahmenplanungen erst nach Erarbeitung einer Nationalparkverordnung erfolgen kann, kann auch der Umfang möglicher waldbaulicher Maßnahmen jetzt noch nicht genau bestimmt werden.

Behauptung 12: In einem Nationalpark könnten grundsätzlich auch Windräder errichtet werden.

NRW Umweltministerium: „In einem Nationalpark können keine Windenergieanlagen (WEA) errichtet werden. Gleichzeitig müssen die geforderten Flächenbeitragswerte im Regionalplan realisiert werden. Je nach zeitlichem Verlauf müsste der Regionalplan dann gegebenenfalls noch einmal angepasst werden, um die nicht mehr nutzbaren Flächen in einem möglichen Nationalpark an anderer Stelle auszugleichen. Durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen vom 29. August 2023 wurde unter anderem der zuvor den Mindestabstand für privilegierte Windenergieanlagen regelnde § 2 des Gesetzes zur Ausführung des Baugesetzbuches in Nordrhein-Westfalen gestrichen. Grundsätzlich können dementsprechend keine pauschalen Abstände zwischen einem Nationalpark und Windenergieanlagen genannt werden. Einen Mindestabstand zur Grenze eines Nationalparks gibt es für die Errichtung von Windenergieanlagen nicht. Somit bliebe Windkraft im Umfeld des Reichswalds weiter möglich.“

Kreis Kleve: Die Klever Kreisverwaltung weist darauf hin, dass es keinen generellen, expliziten gesetzlichen Ausschluss von Windenergieanlagen in Nationalparken gibt. Es gebe weder ein Bundes- noch ein Landesnaturschutzgesetz, in dem das geregelt ist. „Es gibt kein Gesetz, das es verbietet, in einem Nationalpark Windenergieanlagen zu errichten“, so die Kreisverwaltung. Allerdings ist die ablehnende Haltung des Landes im Windenergieerlass festgeschrieben. Das Land entscheidet eigenständig, welche Vorgaben es genau in einer möglichen Nationalparkverordnung aufnehmen würde.

Ferner schreibt die Kreisverwaltung auf Anfrage: „Auf der anderen Seite hätte das Land NRW auch die potenziellen Flächen für einen zweiten Nationalpark aus der „Windpotenzialflächen-Suche“ über eine einfache Regelung bei der Änderung des Landesentwicklungsplans (LEP) - zumindest zeitlich befristet - ausklammern oder sogar ganz herausnehmen können. Dies ist allerdings nicht geschehen. Und auch im nachgeordneten Regionalplanänderungsverfahren ist es jetzt nicht so leicht möglich, den Reichswald mit dem Argument eines evtl. noch zu initiierenden Nationalparks pauschal aus der Suchkulisse herauszunehmen. Damit bleibt der Reichswald ein potenzielles Gebiet für WEA. Damit könnte es unter Umständen passieren, dass Windräder genehmigt und gebaut werden müssten, bevor der Reichswald nach positivem Bürgerentscheid und erfolgreichem Bewerbungsverfahren Nationalpark wird und es eine entsprechende Nationalparkverordnung gibt. (Dies dauert nämlich.)„