Essen. Paula (5) aus Essen hat eine unheilbare Krankheit, ihre Muskulatur baut ab. Doch in der Therapie mit Molly wächst sie über sich hinaus.

Die Leckerchen liegen nur eine Schnauzenlänge entfernt, doch Molly wartet. Sie wartet, während Paula die Leckerchen zählt, es sind fünf, dann wieder aufklaubt und versteckt, eins nach dem anderen. Sie wartet, bis Britta Nölle das Kommando gibt: „Molly, such!“ Erst da springt sie auf und sammelt alle Leckerchen wieder ein; sehr zur Freude von Paula, die ihr ein bisschen dabei hilft.

Britta Nölle ist Ergotherapeutin im Zentrum für Kindesentwicklung des Kinderschutzbundes, Molly ist ihr Therapiebegleithund. Und die fünfjährige Paula ist eines von vielen Kindern, denen Molly helfen kann. Die dreijährige Beagle-Mix-Hündin ist zwar „kein Allheilmittel“, wie Britta Nölle betont, aber sie sei eine wunderbare Ergänzung der Therapie. Weil sie motiviere, ganz anders, als ein Therapeut das könne. Für Molly würden sich viele Kinder besonders ins Zeug legen, beobachtet Nölle. Deshalb bindet sie den Hund in spielerische Übungen ein.

Therapie mit Begleithund ist für viele Kinder im Essener Zentrum für Kindesentwicklung geeignet

ALTENESSEN: Im Zentrum für Kindesentwicklung des Kinderschutzbundes schauen wir Britta Nölle, Ergotherapeutin,  mit ihrem  Therapiehund Molly bei ihrer Arbeit zu
Paula hat ihre Aufgabe schon erledigt und die Leckerchen versteckt, Molly soll sie nun aufspüren. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Natürlich könnte sie Paula Kniebeugen machen lassen, um ihre Muskulatur zu stärken und die Koordination zu verbessern, sagt Britta Nölle, aber viel besser sei es doch, wenn das Mädchen ähnliche Bewegungen ausführe, um an die Leckerchen für Molly zu gelangen, die sie dann anschließend verstecken darf. Ein Spiel, bei dem das Kind die nötigen Übungen quasi nebenbei erledigt, ohne dass Defizite oder Schwierigkeiten im Vordergrund stehen. „Es geht darum, das für Molly zu machen.“ Und die belohnt, indem sie begeistert auf die Suche geht, dabei mit Pfoten und Schnauze Hindernisse beiseite schiebt und schließlich mit lauten Knurpsgeräuschen die Leckerchen verspeist.

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Die Therapie mit Molly hat auch noch einen weiteren Effekt: „Die Kinder erleben durch sie Selbstwirksamkeit“, erklärt Britta Nölle. „Sie tun etwas, und der Hund reagiert darauf.“ Auch bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung, die zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Kommunikation haben, erleichtere Molly den Zugang. Ein Teil der Begründung in diesen Fällen: Das Kind ist „nonverbal“, kann also nicht sprechen. Nun, der Hund spricht auch nicht. Doch er kommuniziert, gibt auf seine Art Feedback – „das ist das, was die Kinder anspricht“.

Gänzlich erklären lasse sich „dieser Zauber“ zwischen Tier und Kind nicht, so Nölle, aber sie merke an der Reaktion der Kinder, dass etwas mit ihnen geschieht, wenn sie auf den Hund treffen. Das funktioniere nicht bei jedem, so wie auch nicht jeder Erwachsene Hunde möge – aber wenn sie es für sinnvoll hält, Molly bei der Therapie hinzuzuziehen, probiert sie es mit Einverständnis der Eltern aus.

Molly ist der erste Therapiebegleithund beim Essener Kinderschutzbund

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Profitieren könnten beispielsweise Kinder mit sozio-emotionalen Störungen, etwa schwer traumatisierte Kinder mit Gewalterfahrungen, die oft die Nähe zum Hund suchen oder sogar Gespräche mit ihm führen würden, statt direkt mit Therapeuten. Auch bei Schwierigkeiten mit der Konzentration, der eigenen Körperwahrnehmung und der Motorik können die Spiele mit Molly in der Therapie unterstützen. Ausschlusskriterien seien lediglich autoaggressives oder stark impulsives Verhalten.

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„Unser Ziel in der Therapie ist die größtmögliche Selbstständigkeit und Teilhabe der Kinder“, sagt Birgit Pammé, Fachbereichsleitung Kindesentwicklung. „Molly ist der erste Therapiebegleithund beim Kinderschutzbund und eine echte Bereicherung.“
Für ihre Aufgabe musste nicht nur Therapeutin Britta Nölle eine Zusatzausbildung durchlaufen – auch die Hündin wurde intensiv vorbereitet. Schließlich muss sie bei der Arbeit mit Kindern einiges aushalten können: von Gerüchen und Geräuschen bis hin zu Berührungen am Kopf oder Umarmungen, die Hunde normalerweise nicht mögen.

Sie bringe den Kindern natürlich bei, wie sie mit Molly umgehen sollen, doch nicht immer funktioniere das auch. Umso wichtiger sei es, dass sie den Hund gut im Blick habe, Stresssymptome erkenne und genügend Ruhepausen für Molly einplane. „Anfangs überlegten wir, ob wir die Kinder vor Molly schützen müssen, doch dann zeigte sich, wir müssen eher Molly schützen“, so Pammé. Deshalb hat die Hündin in einer Ecke des Therapieraumes einen geschützten Rückzugsbereich.

Essener Familie erhielt die Diagnose, als Paula noch ein Kleinkind war

ALTENESSEN: Im Zentrum für Kindesentwicklung des Kinderschutzbundes schauen wir Britta Nölle, Ergotherapeutin,  mit ihrem  Therapiehund Molly bei ihrer Arbeit zu
Molly hört auf die Kommandos von Britta Nölle, doch zwischendurch darf auch einfach mal geschmust werden. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

In der Therapie kann Molly je nach Situation einen aktiven oder passiven Part übernehmen: Nachdem sie im ersten Spiel die Leckerchen aufgespürt hat, die Paula zuvor versteckt hat, wechselt sie anschließend in die Beobachterrolle. Das Mädchen legt sich bäuchlings in eine Hängematte, Britta Nölle hält ihr die ausgestreckten Arme hin: Paula soll nun nach den Händen der Therapeutin greifen, sich zu ihr heranziehen und wieder loslassen, um die Hängematte zum Schaukeln zu bringen.

In der Bewegung soll sie nach Hunde-Leckerchen greifen, die Nölle unter kleinen Matten am Boden platziert hat. Für die Kleine eine anstrengende Aufgabe, bei der sie auf vieles achten muss. Aufgrund einer seltenen degenerativen Erkrankung, dem „Louis-Bar-Syndrom“, bildet sich Paulas Muskulatur zurück. Sie ist kognitiv fit und merke daher, so die Therapeutin, wenn ihr Bewegungen nicht gelingen oder sie ihren Speichel nicht richtig kontrollieren kann, worunter sie sehr leide.

„Die Krankheit ist fortschreitend und bisher nicht heilbar“, erklärt Julia Lummer, ihre Mutter. „Irgendwann wird Paula wahrscheinlich einen Rollstuhl brauchen.“ Die Therapie soll helfen, den Prozess zu verzögern, und Paulas Muskeln so lange und so gut wie möglich zu erhalten. „Ich bin den Therapeutinnen und der Einrichtung so dankbar“, sagt Julia Lummer, „sie haben nicht nur Paula, sondern auch uns als Familie aufgefangen.“ Denn die Diagnose, da war Paula etwa zwei, habe sie in ein tiefes Loch stürzen lassen: „Es ist die Hölle zu wissen, dass das eigene Kind jetzt noch fit ist, aber bald eben nicht mehr.“

Doch zu sehen, wie viel Spaß ihre Tochter mit Molly habe, wie sie sich anstrenge und über sich hinauswachse, sei unbeschreiblich. „Sie ist noch so jung, und wir haben Hoffnung. Das muss man auch.“ Weil die Therapiezeit mit Molly irgendwann zu Ende gehe, würden sie nun darüber nachdenken, einen eigenen Hund anzuschaffen: ob als Familienhund oder speziell ausgebildet, müsse sich zeigen. Denn für die Familie ist nun klar: Was auch immer Paula noch bevorsteht, die Verschlimmerung ihrer Krankheit oder womöglich Ausgrenzung in der Schule – ein Hund kann sie begleiten und ihr helfen, das alles besser zu verkraften.

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