Essen. Prof. Jochen Seitz leitet die Jugendpsychiatrie an der LVR-Klinik. Der Experte für Essstörungen sagt, welche Rolle die Gene bei Anorexie spielen.

In der Wissenschaft setzt sich die Erkenntnis seit einigen Jahren durch, in vielen Familien mit magersüchtigen Kindern dürfte sie für Erleichterung sorgen: „Es sind nicht die Eltern schuld“, sagt Prof. Dr. Jochen Seitz. Der Experte für Essstörungen wird das Thema auch in seiner Antrittsvorlesung am Donnerstag, 8. November, behandeln.

Anorexie ist eine der tödlichsten psychiatrischen Erkrankungen

Seitz hat seit Ende 2023 die ärztliche Leitung der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der LVR-Universitätsklinik und einen Lehrstuhl an der Uni Duisburg Essen. Er ist Experte für Essstörungen und hat sich schon in seiner Habilitation der Anorexie gewidmet. Die ist mit einer Rückfallquote von gut 50 Prozent behaftet, was sich teils in einem lebenslangen Hin-und-Her äußert, teils wird die Störung chronisch; bei einigen Betroffenen endet sie mit dem Tod. „Im Verhältnis zur Zahl der Patienten ist es die tödlichste aller psychiatrischen Erkrankungen.“

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Auch darum ist Magersucht so belastend für die Familien, versetzt Eltern in Alarmbereitschaft, „wenn sie ihrer ureigenen Aufgabe nicht mehr gerecht werden können, ihr Kind zu ernähren“. Seitz erzählt von einem Vater, der seiner joggenden Tochter auf dem Fahrrad in den Wald folgte, aus Angst, das ausgezehrte Mädchen könne dort kollabieren.

Die Gene spielen eine zentrale Rolle für die Entstehung von Anorexie

Der Verdacht, der auf den Eltern lastete, seit das Krankheitsbild vor einem guten halben Jahrhundert in den Fokus von Medizin und Psychologie geriet, lasse sich nicht erhärten. „Es gibt keine Studie, die beweist, dass die Eltern schuld sind oder auch nur eine Hauptrolle spielen – aber viele Hinweise auf andere Ursachen.“

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Schon seit geraumer Zeit sei klar, dass Magersucht stark genetisch bedingt ist. „Für das Entstehen einer Anorexie sind zu 60 bis 70 Prozent die Gene verantwortlich.“ Durch Studien mit ein- und zweieiigen Zwillingen sei das belegt. Auch soziale Faktoren wie die Peer-Group und Schönheitsideale, die über Social Media verstärkt werden, spielten eine Rolle bei der komplexen Entstehung der Krankheit.

Prof. Jochen Seitz, ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der LVR-Universitätsklinik in Essen.

„Es gibt keine Studie, die beweist, dass die Eltern schuld sind oder auch nur eine Hauptrolle spielen – aber viele Hinweise auf andere Ursachen Für das Entstehen einer Anorexie sind zu 60 bis 70 Prozent die Gene verantwortlich.“ “

Prof. Dr. Jochen Seitz, ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der LVR-Universitätsklinik in Essen, über Ursachen für Magersucht

Betroffene seien oft perfektionistisch: Wenn sie eine Diät samt Fitnessprogramm in Angriff nähmen, zögen sie diese auch eisern durch. Hätten sie erstmal 10, 15 kg verloren, schalte ihr Körper auf Sparprogramm: Sie frieren, die Haut wird trockener, die Haare fallen aus… „Gleichzeitig haben sie ein verzerrtes Körperbild, halten sich weiter für zu dick, haben große Angst zuzunehmen und nehmen stattdesssen noch weiter ab.“

Auch Sportler, die hart trainieren, können in eine Magersucht rutschen

Viele Magersüchtige haben ein verzerrtes Körperbild und halten sich für zu dick, obwohl sie untergewichtig sind.
Viele Magersüchtige haben ein verzerrtes Körperbild und halten sich für zu dick, obwohl sie untergewichtig sind. © picture alliance / dpa | Jens Kalaene

In diesen fatalen Kreislauf könnten manchmal auch Menschen geraten, die anfangs gar nicht abnehmen wollten. So beobachte man, dass Sportler, die durch hartes Training Gewicht verlieren, ebenso in eine Anorexie rutschen könnten, wie Gesundheitsbewusste, die sich vegetarisch oder vegan ernähren und völlig auf Industriezucker verzichten. Neben den Genen brauche es die Gewichtsabnahme selbst, damit eine Anorexie entstehe, folgert Seitz.

Darmbakterien bei Patientinnen mit Magersucht sind verändert

„Auffällig ist, dass die Patienten andere Darmbakterien haben als Nicht-Erkrankte.“ Bakterien, die möglicherweise Ballaststoffe schlechter verwerten und so dazu beitragen, dass Betroffene nicht so gut zunehmen können – und krank bleiben. Transplantiert man den Stuhl von Anorexie-Patienten in Mäuse, wachsen diese langsamer.

Offen ist, wie weit sich die Bakterien erst durch die (Mangel-)Ernährung der Patientinnen verändern. Und wie man die Erkenntnisse für ihre Behandlung nutzen kann. Dass die sogenannte Mikrobiom-Darm-Gehirn-Achse bei verschiedenen psychischen Erkrankungen eine Rolle spielt, gilt als erwiesen. Das Wechselspiel zwischen Darm und Hirn genauer zu erklären, gehört zu Seitz’ Forschungsschwerpunkten.

Dank Hunderter verschiedener Darmbakterien habe man es mit einem dschungelartigen Öko-System zu tun: „Ich würde daher nicht erwarten, dass das Mikrobiom die Therapie von Anorexie-Patienten revolutioniert.“ Im Idealfall könne man Patienten eines Tages durch Stuhl-Transplantation oder eine auf das Mikrobiom zielende Medikation so helfen, dass sich der Klinikaufenthalt verkürzt, der heute meist vier Monate dauert.

Jedes zusätzliche Kilogramm Gewicht reduziert die Rückfallquote

Essen und Psychotherapie blieben einstweilen die Kernelemente der Behandlung. Wobei viele Betroffene weiter daran glaubten, dass ihre Eltern Ursache der Erkrankung seien. „Und es ist ja nie falsch, bei Kindern und Jugendlichen möglichen Familienstress zu behandeln.“ Bloß sehe er die Eltern eher als Co-Therapeuten: Sie begleiten ihre Kinder in der heiklen Übergangszeit, wenn sie aus der Klinik kommen und erst wieder einüben müssen, zur Schule zu gehen, Freunde zu treffen, zu Hause oder mit anderen zu essen. Zuvor sollte ein festes Zielgewicht erreicht sein: „Jedes Kilo hilft bei der Rückfallreduzierung.“

Essstörungszentrum soll Patientinnen jeden Alters aufnehmen

Am besten sei es, wenn die vollstationäre Behandlung früh einer teilambulanten weiche, wenn die Jugendlichen also abends und am Wochenende nach Hause gehen. Eltern sorgten oft erst dafür, dass ihre Kinder in Behandlung kommen („manchmal mit richterlichem Beschluss“) und sie unterstützten den Genesungsprozess entscheidend. Tödlich ende die Anorexie eher bei erwachsenen Patientinnen, die dem elterlichen Schutz entzogen sind – und aus der Jugendpsychiatrie fallen. Seitz möchte daher ein Essstörungszentrum aufbauen, das die gesamte Altersspanne abdeckt.

Auch bei anderen psychischen Erkrankungen tauge die Volljährigkeit kaum als Grenzstein zwischen Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie. Auch die Option, seine Patienten bis 21 behandeln zu können, bilde nicht ab, dass das Gehirn bis zum Alter von 25 reife. Seitz möchte daher mit den Psychosomatik-Kollegen, die Erwachsene behandeln, eine Adoleszenten-Station für 16- bis 25-Jährige aufbauen. Denn: „An den Übergängen vom einen zum anderen System gehen noch zu viele junge Menschen verloren.“

Nachfolger von Johannes Hebebrand

Dr. Jochen Seitz ist seit Ende 2023 Professor an der Uni Duisburg Essen und hat auch die ärztliche Leitung der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der LVR-Universitätsklinik übernommen. Seitz (52) kommt von der Uniklinik der RWTH Aachen, wo er seit 2015 Oberarzt war und sich 2018 auch habilitierte. Der gebürtige Jülicher hat an der Uni Witten/Herdecke Medizin studiert und Auslandsaufenthalte in der Schweiz, den USA, den Niederlanden und Kenia absolviert. Seine Antrittsvorlesung in Essen hält der Experte für Essstörungen am Freitag, 8. November.

Er ist Nachfolger von Prof. Dr. Johannes Hebebrand, der sich nach fast 20 Jahren an der LVR-Universitätsklinik in den Ruhestand verabschiedete. Hebebrand habe die Klinik maßgeblich in Therapie, Forschung und Lehre geprägt und ihr zu „internationaler Sichtbarkeit“ verholfen, sagte der Ärztliche Direktor der LVR-Universitätsklinik, Prof. Dr. Martin Teufel, zu Hebebrands Abschied.

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