Essen. Ernst Schmidt wäre am 12. Oktober 100 Jahre alt geworden. Seine Bücher über NS-Verfolgung und Widerstand in Essen sind bis heute lesenswert.

Er hat totalitäre Ideologien nicht nur „aufgearbeitet“, sondern sie erlebt und erlitten, hat sie verfochten und sich unter Schmerzen von ihnen gelöst. Am Samstag (12.10.) wäre der frühere inoffizielle „Stadthistoriker“ Ernst Schmidt 100 Jahre alt geworden. Seine Bücher über Verfolgung und Widerstand in Essen sind immer noch lesenswert. Denn Ernst Schmidt hat es wie kein anderer verstanden, die politischen Schicksale von Menschen lebendig und schnörkellos zu erzählen.

Die intensive Beschäftigung mit Geschichte war dem Sohn eines Hufschmieds aus Borbeck nicht in die Wiege gelegt worden. Das Leben selbst hat ihn auf diese Schiene gesetzt. In jungen Jahren verfiel Ernst Schmidt wie so viele aus seiner Generation den nationalsozialistischen Ideologen, die die jugendliche Neigung zum Idealismus zynisch ausnutzten. Schmidt war begeisterter Hitlerjunge und Wehrmachtssoldat („Ich habe daran geglaubt“), kämpfte an der Ostfront.

Zur Wochenzeitung Borbecker Nachrichten hatte Ernst Schmidt (2.v.li.) eine besondere Verbindung. Das Bild zeigt ihn mit Verleger Walter Wimmer, dem damaligen OB Wolfgang Reiniger und dem Borbecker Bibliotheksleiter Andreas Körner (v.li.) anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Borbecker Nachrichten im Jahr 2009.
Zur Wochenzeitung Borbecker Nachrichten hatte Ernst Schmidt (2.v.li.) eine besondere Verbindung. Das Bild zeigt ihn mit Verleger Walter Wimmer, dem damaligen OB Wolfgang Reiniger und dem Borbecker Bibliotheksleiter Andreas Körner (v.li.) anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Borbecker Nachrichten im Jahr 2009. © WAZ | Walter Buchholz

Bei Kriegsende 1945 geriet er in sowjetische Gefangenschaft, wo er sich von der anderen großen politischen Religion des 20. Jahrhunderts überzeugen ließ. Als glühender Kommunist kehrte Schmidt heim nach Essen, focht und litt für die später verbotene KPD, in deren Diensten er sogar eine Gefängnisstrafe auf sich nahm. Nach Hitler hatte er in Stalin seinen zweiten falschen Helden gefunden.

Ernst Schmidt wollte auch seine eigenen politischen Irrtümer verstehen lernen

Ab Ende der 1960er Jahre wuchsen seine Zweifel, der kaufmännische Angestellte machte mehr und mehr seinen Frieden mit der Bundesrepublik Deutschland und fand später zur SPD. Vor allem aber fand er eine dritte Mission, diesmal eine demokratische. Er wollte aufarbeiten und seine eigenen politischen Irrtümer, die er offen wie nur wenige eingestand, verstehen lernen. Vor allem wollte er den Opfern der totalitären Ideologien eine Stimme geben. Ergebnis war seine Buch-Trilogie „Lichter in der Finsternis“, die in den 1980er Jahren zu einem großen Erfolg wurde.

Dafür gab es Gründe. Die etablierte historische Wissenschaft hatte gerade begonnen, neben den Akten und Hauptakteuren auch die kleinen Leuten in den Blick zu nehmen - als Leidtragende, aber im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten ebenso als Handelnde. Ernst Schmidt, der historisierende Autodidakt, hat diese „Geschichte von unten“ - zumindest im Ruhrgebiet - ganz entscheidend angestoßen und mitgeprägt und so auch die akademischen Debatten beeinflusst.

Ohne dass Schmidt je eine klassische Dissertation vorgelegt hat, verlieh ihm die Universität Bremen dafür den Doktortitel. Das war ungewöhnlich, aber verdient. In Essen erinnert der Ernst-Schmidt-Platz an ihn, der Schulhof der alten Luisenschule am Bismarckplatz, in der sich seit 2011 das Stadtarchiv/Haus der Essener Geschichte befindet. In dem Buch „Vom Staatsfeind zum Stadthistoriker“ beschrieb er 1998 sein Leben.

In vielen Schulklassen bewies Ernst Schmidt sein erzählerisches Talent

Ernst Schmidt war aber auch ein begnadeter Erzähler, einer, der eine anfangs oft nur wenig interessierte Schulklasse dazu bringen konnte, gebannt seinen Worten zu lauschen. Unvergessen auch sein Bemühen, vertriebene jüdische Essener zu bewegen, immer wieder die alte Heimat zu besuchen und aus ihrem Leben zu berichten. Durch das Aufzeichnen ihrer Geschichte in seinen Büchern hatte Schmidt ihr Vertrauen gewonnen.

Wenn Essen besonders viele biografische Erinnerungen aus der NS-Zeit hat, dann ist das jedenfalls vor allem Ernst Schmidt zu verdanken, der zahlreiche Zeitzeugen interviewte, die mittlerweile längst verstorben sind und ohne ihn stumm geblieben wären. Es ging ihm aber nicht nur um die Opfer. Auch die lokalen Täter, die Gestapo- und SA-Männer von nebenan, entriss er oft mit Klarnamen in seinen Büchern dem Vergessen.

Ernst Schmidt, der 2009 verstarb, blieb bei all dem immer bescheiden, zugewandt und gerade jüngeren Historikern und Journalisten gegenüber äußerst hilfsbereit. Sein großes, in Jahrzehnten aufgebautes Archiv ist bis heute für die Forschung ein wichtiger Fundus und wird im Stadtarchiv aufbewahrt.