Essen. Trendwende in der Kindertagespflege: Tagesmütter erleben drastische Einbrüche bei den Anmeldungen. Sie klären auf und suchen nach den Gründen.

Eigentlich ist Brigitte Große-Rhode (60) gelernte Floristin. Seit 20 Jahren aber sorgt sie dafür, dass vor allem Kinder gedeihen. Mit ihrer Kollegin Claudia Tönnies (56) betreut sie in der „Flohkiste“ neun Mädchen und Jungen. Die Nachfrage sei in beiden Jahrzehnten riesig gewesen, nun aber erleben die beiden eine Trendwende: Statt Wartelisten gibt es so gut wie keine Anmeldungen fürs kommende Jahr. Die Suche nach Gründen.

An der Straße Nockwinkel liegen die Räume, die zuvor Pommesbude und Kneipe gewesen sind. Hier ist die Flohkiste im Vorjahr nach einem großen Umbau eingezogen. Ein bunt gestalteter Raum mit Holzelementen, viel Spielzeug, einer Küche und dem Schlafraum nebenan gehört ebenso dazu wie der unbefristete Mietvertrag. Endlich angekommen, atmeten die Tagesmütter auf, hatte doch Brigitte Große-Rhode zuvor bereits zweimal im Stadtteil Räume verloren, da etwa kirchliche Gebäude abgerissen worden sind. Dann haben sie lange gesucht und schließlich einen „Flohkistenvater“ überzeugt, dass sich das Lokal eben doch zu einer Kindertagespflege umbauen lässt.

Essener Tagesmütter haben ehemalige Kinder schon als Praktikanten wieder begrüßt

Bunt gestaltet sind die Räume der Kindertagespflege Flohkiste.
Bunt gestaltet sind die Räume der Kindertagespflege Flohkiste. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Nun kommen die Mädchen und Jungen (1 bis 3 Jahre) montags bis mittwochs von 7.30 bis 15.30 Uhr, donnerstags und freitags schon ab 7 Uhr. Die ersten Flohkisten-Kinder seien bereits als Praktikanten zu ihnen zurückgekommen, blicken die Tagesmütter auf die lange Zeit der Betreuung zurück. Für Brigitte Große-Rhode sind es genau 20 Jahre, seitdem sie sich nach der Erziehung ihrer beiden Söhne selbstständig machte („früher wollte ich Kinderkrankenschwester werden“), vor fünf Jahren stieß Claudia Tönnies dazu, die bis zur Geburt ihrer beiden Söhne als gelernte Industriekauffrau als Personalsachbearbeiterin gearbeitet hat.

„Wir machen unseren Job mit viel Leidenschaft, aber auch mit entsprechenden Qualifizierungen und zahlreichen Fortbildungen“, sagt Claudia Tönnies. Sie haben etwa die Tagesmutterzertifizierung, zwölf Stunden im Jahr bilden sie sich pädagogisch fort, haben aber auch Unfall- und Hygienepläne, viele Auflagen und vor allem ein pädagogisches Konzept, erklären sie. „Wir wollen nicht nur spielen.“

Essener Tagesmütter besuchen benachbarte Kita

„Wir besuchen mit den Kindern die benachbarte Kita, wo sie beispielsweise den Bewegungsraum kennenlernen“, beschreibt Brigitte Große-Rhode. Ausflüge zu den Spielplätzen, ins Seniorenheim, wo sie singen, oder zur Polizei auf dem Wochenmarkt, wo die Kinder sich bei der mobilen Wache vor allem für das Fahrzeug begeistern, zählen zu ihrem Alltag. Dazu mittags das Essen, das sie zubereiten und die Tatsache, „dass die Kinder hier notwendige Regeln lernen“, sagt die Tagesmutter. Die Mädchen und Jungen können sich die Schuhe binden, wissen, wann sie die Hände waschen sollen. Zudem achteten sie aufeinander.

Woran es nun liegt, dass keine Kinder mehr in der Flohkiste auf der Liste für das kommende Kitajahr stehen, darüber können die Frauen nur rätseln. Noch seien die Plätze voll, wechselt dann aber ein Kind nach ihrer U-3-Betreuung etwa wegen seines Alters in die Kita, ist niemand da, der aufrücken könnte. „Eine Trendwende, die in diesem Jahr so plötzlich wie unerwartet kam“, sagt Brigitte Große-Rhode. Bislang standen Jahr für Jahr bis zu 30 Namen auf ihrer Warteliste. Nun aber geht es auch anderen Kindertagespflegen ähnlich, wissen die Flohkisten-Tagesmütter. Dabei gehe es am Ende auch um ihre Existenz, die bedroht werden lönnte, denn sie hätten nicht zuletzt fixe Kosten wie für die Miete.

Gemeinsam haben sie mit anderen Tagesmüttern daher nicht nur einen Flyer erstellt, der über diese Form der Betreuung informiert, sie suchen auch nach Antworten. Möglicherweise sorgen sich Eltern wegen der doppelten Eingewöhnung, erst in der Tagespflege, dann nach dem Wechsel in die Kita. Oder sie befürchteten, keinen Platz in der Kita mehr zu bekommen, weil dort die Kinder aufrückten. Manche wüssten vielleicht nicht, dass auch sie einen Bildungsauftrag hätten, dass sie zwar keine Erzieherinnen seien, aber eben doch qualifiziert. Vielleicht wüssten einige Eltern nicht, wie es mit den Kosten ausschaut.

Essener Tagesmütter müssten Konzept für ältere Kinder ändern

Gemütlich eingerichtet sind die Räume der Flohkiste.
Gemütlich eingerichtet sind die Räume der Flohkiste. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

„Dabei richtet sich die Höhe der Kosten auch bei uns nach dem Einkommen“, erklärt Brigitte Große-Rhode. Anmeldungen seien über das städtische System („Little Bird“) möglich, aber eher unüblich. Die meisten kämen zu ihnen. Den Vertrag leiten sie dann an das Diakoniewerk weiter, unter dessen Dach sie angesiedelt seien. Dann landeten die Unterlagen bei der Stadt, die für die Kostenübernahme verantwortlich sei und die schließlich mit den Eltern abrechne.

„Der übliche Weg“, sagt Claudia Tönnies, die sich über den Einbruch auch deshalb wundert, weil doch der Bedarf an Betreuungsplätzen so hoch, der Platzmangel mitunter so groß sei. Es würden zwar viele Kitas errichtet, aber immer wieder höre man dann von Erziehermangel und spontanen Schließungen in Krankheitsfällen. Sie selbst haben ihre eigene Lösung gefunden: Sie arbeiteten mit einer dritten Kraft, die zweimal in der Woche in die Flohkiste komme und die gleichzeitig die Vertretung im Urlaub oder bei Krankheit der Tagesmütter sei.

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Sie könnten natürlich auch ältere Kinder aufnehmen, „aber dann müssten wir unser ganzes Konzept ändern“, sagt Brigitte Große-Rhode besorgt. Denn es hänge ihr Herzblut an der Flohkiste in ihrer bewährten Art, die so viele Eltern über die beiden Jahrzehnte zu schätzen gelernt hätten. Rührende Schreiben von Müttern und so viele ergreifende Abschiedsbriefe von Eltern zeugten davon. Daher geben die Tagesmütter nicht auf, gehen mit dem Flyer in die Offensive und wollen aufklären. Schließlich hänge an der Flohkiste nicht nur ihr Vollzeitjob, sondern ganz viel Herzblut.

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