Essen. Der Herz-Kreislauf-Stillstand ist hierzulande die dritthäufigste Todesursache. Dabei könnte man viele Leben retten, sagt ein Essener Arzt.
Der Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb eines Krankenhauses ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland: Zu etwa 70.000 Betroffenen pro Jahr wird der Rettungsdienst gerufen – doch nur bei der Hälfte werden schon in der Wartzeit Reanimationsversuche unternommen. Dabei könnten die Leben retten. Mit der Woche der Wiederbelebung von 16. bis zum 22. September 2024 machen Anästhesiologen und Intensivmediziner jetzt bundesweit auf das wichtige Thema aufmerksam.
Der Essener Notfallmediziner Dr. Ingo Voigt verfolgt diese Mission schon lange: Er möchte mehr Menschen zu Lebensrettern machen. Jahr für Jahr erleiden in Deutschland etwa 100.000 Betroffene einen Herz-Kreislauf-Stillstand – und nur gut zehn Prozent von ihnen überleben. Dabei könnten deutlich mehr Leben gerettet werden könnten, wenn Betroffene sofort reanimiert würden, sagt Voigt. Doch das trauten sich viele nicht zu: „Ihnen fehlt das Wissen, sie haben Angst, einen Fehler zu machen und dafür bestraft zu werden oder ekeln sich vor der Mund-zu-Mund-Beatmung.“ All das lasse sich ausräumen, sagt der Mediziner, der mit der Initiative „Junge Retter“ schon Schülern die Reanimation beibringt.
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Erste Lektion: „Man kann nichts falsch machen – außer man tut nichts.“ Ein Mensch mit Herz-Kreislauf-Stillstand ist faktisch bereits tot, er kann nur im glücklichsten Fall zurückgeholt werden. Wer einen regungslosen Menschen findet, sollte ihn also ansprechen, leicht an der Schulter rütteln, seine lebenswichtigen Funktionen prüfen.
Essener Arzt: Mit jeder Minute sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit
Wenn der Betroffene weder reagiert noch atmet, wählt man sofort die 112 und wartet dann nicht einfach, bis der Rettungsdienst etwa sieben, acht Minuten später eintrifft. Denn wenn nichts getan wird, „sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit jeder Minute um zehn Prozent“, erklärt Voigt, der als Chefarzt der Klinik für Akut- und Notfallmedizin im Elisabeth-Krankenhaus arbeitet.
Der Retter macht also den Oberkörper des Bewusstlosen frei, legt seine Hände übereinander auf dessen Brustkorb und drückt kräftig: „100- bis 120-mal in der Minute und fünf bis sechs Zentimeter tief“, betont Voigt. Tempo und Krafteinsatz sind wichtig: Bei seinen Lehreinsätzen in Schulen zeige er gerne Ausschnitte aus „Baywatch“, weil sich die Rettungsschwimmer-Soap so gut als schlechtes Beispiel eigne. „Da bewegt sich der Oberkörper der Retter meist mehr als der des Reanimierten. Generell würden die meisten Menschen, die in Filmen reanimiert werden, nicht überleben.“
„Generell würden die meisten Menschen, die in Filmen reanimiert werden, nicht überleben.““
Dass man dem Wiederbelebten durch kraftvolles Drücken womöglich eine Rippe bricht, sei eine zu verschmerzende Nebenwirkung. „Der da liegt, ist tot. Es geht jetzt darum, ob das wichtigste Organ, das Gehirn, durchblutet ist.“ Sonst kehre er gar nicht oder mit schweren neurologischen Schäden ins Leben zurück. Leider liege der Anteil der Deutschen, die im Notfall eine Herzdruckmassage beginnen, unter der in anderen Ländern: Etwa 50 Prozent beträgt die „Laienreanimationsquote“ hierzulande, in skandinavischen Ländern oder in den Niederlanden seien es um die 75 bis 80 Prozent, sagt Voigt. „Das gehört da zum Schulunterricht.“
Stiftung testet Erste-Hilfe-Kenntnisse
Die Björn-Steiger-Stiftung für Notfallhilfe und Rettungswesen setzt sich für verpflichtende Erste-Hilfe-Nachschulungen alle zwei Jahre ein. Mit einer großen Untersuchung in Fußgängerzonen wollen die Fachleute jetzt herausfinden, wie gut die Menschen einst gelernte lebensrettende Maßnahmen beherrschen. Start der Aktion ist am Samstag, 31. August, in Essen.
Passanten sollen Fragen beantworten und an Dummypuppen zeigen, was vom Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein hängen geblieben ist. Bundesweit will die Stiftung mindestens 600 Menschen zum Test bitten. Gerade die Bedeutung der Herzdruckmassage sei kaum zu überschätzen, betont die Stiftung: Aktuell überlebe nur jeder Zehnte einen Herz-Kreislauf-Stillstand.
Dr. Ingo Voigt, Chefarzt der Klinik für Akut- und Notfallmedizin im Essener Elisabeth-Krankenhaus, und sein Team wurden im Juni 2024 mit dem Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin ausgezeichnet: In einer Studie hatten sie untersucht, wie sich eine frühe Wiederbelebung nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand auf die Lungenfunktion auswirkt. Voigt sagt, neben anderen Folgen hätten sich bei Patienten ohne raschen Ersthelfer-Einsatz deutlich größere Lungenschäden gezeigt.
Ginge es nach Voigt, würde Reanimation auch bei uns zum Schulstoff. Den Einwand, das Thema sei zu komplex, lässt der Mediziner nicht gelten: Es lasse sich mit viel Bewegung lebendig vermitteln und auf die griffige Formel verdichten: „Prüfen, Rufen, Drücken“. Seit Jahren geht Voigt mit Kollegen an Essener Schulen, erklärt Kindern und Jugendlichen, dass sie das Thema betrifft: Die meisten Fälle von Herz-Kreislauf-Stillstand treten nicht im Krankenhaus auf, sondern im persönlichen Umfeld: „Es kann Mutter, Vater, Oma oder Onkel treffen.“
Arzt aus Essen: Man braucht nur seine Hände und etwas Zivilcourage
Video: Dr. Ingo Voigt aus Essen erklärt die Reanimation
Schon Mädchen und Jungen können helfen, betont Voigt. Wer sich die Beatmung nicht zutraue, könne sich allein auf die Herzdruckmassage konzentrieren. „Man braucht nichts dafür als seine Hände.“ Und vielleicht ein wenig Zivilcourage, damit sich Fälle nicht wiederholten, wie der des Mannes, der im Jahr 2016 im Vorraum einer Essener Bank lag. Kameras zeichneten auf, wie mehrere Bankkunden zum Geldautomaten gingen, ohne sich um den Leblosen zu kümmern. Als schließlich jemand den Notruf alarmierte, kam die Hilfe zu spät: Der 82-Jährige starb später im Krankenhaus. Hinsehen und Handeln, das wünscht sich Voigt von jedem.
Woche der Wiederbelebung an Essener Schulen
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Die Schüler nähmen das gut auf, auch jene, die vorher skeptisch sind oder betroffen, weil sie schon einmal jemanden sterben sehen mussten. Nun wisse er zum Glück, was man tun könne, habe mal einer gesagt. Doch das Wissen braucht Wiederholung. Dr. Voigt und seine Mitstreiter, die in der „Woche der Wiederbelebung“ vom 16. bis 22. September wieder an Essener Schulen gehen, können das nicht allein leisten. „Unser Ziel ist es, dass wir Erwachsene in Schulen und Vereinen so fit machen, dass sie regelmäßig mit den Jugendlichen trainieren.“
An einigen Schulen gebe es solche Multiplikatoren, und auch die Schulbehörde unterstütze die jungen Retter. Voigt selbst ist Läufer und als solcher ausdauernd; auch beim Thema Laienreanimation bleibt er dran: „Man könnte wahrscheinlich zwei- bis dreimal so viele Leben retten.“ Wenn nur mehr Menschen mitmachten.
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