Essen-Stoppenberg. Als Rentner machte Hubert Wüllner (67) allein eine große Wanderung quer durchs Land. Weder Bauzäune noch Reichsbürger-Schilder hielten ihn auf.

Sie werden nicht schlecht gestaunt haben, die Sicherheitsleute an den Bildschirmen, als da plötzlich dieser Mann auftauchte: drahtig, sportlich, in Wanderstiefeln. Klettert mit seinem Wanderrucksack über das Gerüst und die Absperrungen, hinein in den Schacht, aus dem er fast nicht mehr herauskommt, dann aber doch, über ein Gitter. Und ist weg.

Hubert Wüllner ist quer durch Deutschland gewandert, wochenlang, hat Kilometer um Kilometer zurückgelegt, mit sportlichem Ehrgeiz. Doch an diesem Tag, da reichte es ihm: Dort, wo das letzte Stück seiner Tagesetappe hätte verlaufen sollen, lag eine abgesperrte Baugrube. Mit „30 Kilometern in den Knochen“ fehlte ihm die Energie für einen riesigen Umweg, also kämpfte er sich kurz entschlossen mitten durch die Baustelle, immer in Erwartung des Alarms, der doch jeden Moment losgehen müsste, bei den ganzen Kameras um ihn herum. Nichts passierte, und Hubert Wüllners Wanderschaft war um ein Erlebnis reicher.

Essener wanderte mit 15 Kilogramm Gepäck jeden Tag 26 bis 27 Kilometer

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Die Wanderung von Westen nach Osten war seine zweite große Deutschlandreise zu Fuß, mit 15 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken, von Unterkunft zu Unterkunft. Genuss-Wandern war das nicht, bei durchschnittlich 26 bis 27 Kilometern am Tag – doch Wüllner genoss es, die Landschaften auf diese Weise zu entdecken und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen: „Denn man wird angesprochen, wenn man ganz allein mit Rucksack durch die Dörfer läuft“, sagt der 67-Jährige.

Allein? Ja, auch das Alleinsein gehört für Hubert Wüllner zur Wandererfahrung. Streckenweise sei er keinem Menschen begegnet, habe den ganzen Tag mit niemandem gesprochen, bis zur nächsten Unterkunft. Die übrigens schwerer zu finden sei, als man meinen könnte, wie Wüllner berichtet. Zumindest, wenn man wie er den Anspruch hat, in den Dörfern unterzukommen, am liebsten in Gasthöfen, in denen man auch essen kann. „Diese alten Gasthäuser ‚Zum goldenen Ochsen‘, ‚Zum großen Hirschen‘ und wie sie alle heißen, die gibt es ja heute kaum noch“, sagt er. Und wenn doch, seien sie nicht unbedingt im Internet auffindbar. Seine Unterkünfte habe er deshalb während der Wanderung mit zwei bis drei Tagen Vorlauf organisiert, und öfter mal eine Tagesetappe ändern müssen.

„Man wird angesprochen, wenn man ganz allein mit Rucksack durch die Dörfer läuft.“

Hubert Wüllner

Wenn es mit der Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten so gar nicht klappen wollte, rief er die örtlichen Tourismusbüros an. Dort sei man stets sehr freundlich und hilfsbereit gewesen, habe ihn mitunter fünf- bis sechsmal weiterverbunden, um ihn an die richtige Stelle zu vermitteln. Mit Erfolg: Hubert Wüllner fand für jede Nacht seiner 31-tägigen Wanderung ein Bett.

Gut gefülltes Überstundenkonto ermöglichte Essener die erste große Wanderung

Deutschlandtour Hubert Wüllner
Am liebsten übernachtet Hubert Wüllner in Gasthöfen, wie es sie früher häufig in den Dörfern gab. © Hubert Wüllner

Bei seinem ersten Wander-Abenteuer sei er „vollkommen unvorbereitet“ gewesen: zwar 30 Jahre jünger, aber „mittags schon völlig erledigt“. Mit Bruder und Schwager legte er eine Strecke zurück, die er sonst nur aus der Autofahrer-Perspektive kannte: Von Essen ging es in seinen Heimatort Bödefeld im Hochsauerlandkreis. In dieser Zeit sei ihm auch der Bericht über einen Mülheimer in die Hände gefallen, der von Flensburg bis auf die Zugspitze wanderte. Zutiefst beeindruckt schnitt er den Artikel aus und bewahrte ihn auf, mit dem festen Vorsatz, selbst irgendwann eine große Tour zu machen: Ihm schwebte die Strecke Essen – Rom vor.

„Diese alten Gasthäuser ‚Zum goldenen Ochsen‘, ‚Zum großen Hirschen‘ und wie sie alle heißen, die gibt es ja heute kaum noch.“

Hubert Wüllner

Doch die Zeit verging; Familie und Beruf nahmen ihn vollends in Anspruch. Erst 2014 war es soweit: Sein gut gefülltes Überstundenkonto ermöglichte ihm eine dreimonatige Auszeit, während der er innerhalb von 59 Tagen 1572 Kilometer zu Fuß zurücklegte: nicht in Richtung Rom, sondern vom Rickelsbüller Koog im Norden Deutschlands bis nach Einödsbach im Süden. Teil zwei seiner großen Deutschland-Durchquerung sollte 2023 folgen: diesmal von West nach Ost, von der holländischen Grenze bis nach Görlitz. Doch gesundheitliche Probleme zwangen ihn nach einigen Tagen zum Abbruch der insgesamt 1008 Kilometer langen Tour, die er jedoch im April 2024 an exakt dem Punkt wieder aufnahm, an dem er zuvor nicht weitergekonnt hatte: bei Königswinter.

Deutschlandtour Hubert Wüllner
Auf seiner zweiten Deutschlandreise wanderte Hubert Wüllner von Westen nach Osten. © Hubert Wüllner

Seine Route führte ihn von dort aus ins Bergische Land, mit einem kleinen Umweg über seinen Heimatort Bödefeld, durchs Waldecker- und Korbacher Land nach Fritzlar. Zeitweise habe ihm der „Wanderweg der Deutschen Einheit“ als Orientierung gedient, sagt Wüllner. Weil ihm der Auf- und Abstieg im Gebirge zu „zermürbend“ gewesen sei, habe er seine Route umgeplant und sei ab Hörschel (dem Schnittpunkt mit seiner ersten Tour) nur einen Tag auf dem Rennsteig gewandert, anschließend „runter in die Ebene“ Richtung Gotha, Erfurt, Leipzig, dann nach Bautzen und schließlich Görlitz.

Essener will künftig nur noch Genuss-Wandertouren machen

Viele Eindrücke hat er mitgenommen: die „lieblichen Landschaften“ der Oberlausitz mit ihren „hübschen Orten“, das „wunderschöne“ Gotha, all die Kriegsgedenktafeln und Hinweise auf Gefangenen- und Konzentrationslager, und: mehrere Reichsbürger-Enklaven – meist Höfe mitten im Nirgendwo, von Schildern als „Deutsches Schutzgebiet“ oder „Achtung: Verbotenes Gebiet“ ausgewiesen.

Dann sind da noch die Begegnungen, die ihm in Erinnerung bleiben werden: mit dem Polizeihauptkommissar, der ihn an seinen Tisch einlud, um mit ihm den ganzen Abend über „Gott und die Welt und das Leben“ zu sprechen, während es einen „super Sonnenuntergang“ zu bestaunen gab; mit dem Australier aus Adelaide, der auf der Suche nach seinen Wurzeln die Oberlausitz erkundete; und mit der 85-jährigen Gastwirtin, die selbst noch nie im Urlaub gewesen ist, aber ihren Gasthof führen will, „bis es nicht mehr geht“.

Beeindruckt habe die ihn, sagt Hubert Wüllner, doch er will es nicht so halten: Es würde zwar noch gehen, aber für ihn soll es die letzte Tour dieser Art gewesen sein, künftig wolle er nur noch Genuss-Wandern: „Fünf Tage, vorher komplett geplant, auf bekannten Wanderwegen“ – und ganz sicher ohne Kletterei über Bauzäune.

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