Essen. Oberbürgermeister Thomas Kufen zieht nach dem Demo-Tag ein positives Fazit. Gewalt wirft aber einen Schatten auf friedlichen Protest.
Stünden da nicht noch ein paar Straßensperren und Polizeiautos an vielen Ecken, dieser verregnete Sonntagmorgen in Rüttenscheid würde sich nicht unterscheiden von einem x-beliebigen Sonntag, an dem das Wetter nicht hält, was man sich Ende Juni eigentlich wünschen würde.
Gut beschirmt haben sich noch einmal etwa 125 Demonstranten auf der Alfredstraße zu einer „Mahnwache“ versammelt, in Sichtweite der Grugahalle, wo der Bundesparteitag der AfD am Sonntag endete. „Unsere Erwartungen wurden bei weitem übertroffen“, ruft Wolfgang Freye ins Mikrofon. Der Vorsitzende der Essener Linken hat die „Mahnwache“ für das Bündnis „Essen stellt sich quer“ angemeldet und scheint beseelt, von den vielen Tausend, die keine 24 Stunden zuvor an dieser Stelle vorbeigezogen sind, um der AfD zu zeigen, dass sie nicht willkommen sei.
Laut dem Bündnis „Widersetzen“ beteiligten sich 50.000 an dem Protestzug nach Rüttenscheid
Noch am Samstagabend äußerte sich Oberbürgermeister Thomas Kufen nach der zentralen Abschlusskundgebung auf Facebook: „Essen hat heute gezeigt, dass wir weltoffen und tolerant sind.“
Zehntausende aus nah und fern waren gekommen, um gegen die AfD zu demonstrieren. Die Initiativen „Gemeinsam Laut“ und „Widersetzen“, die zum Protest aufgerufen hatten, sprachen am Sonntag von 50.000 Teilnehmern, die sich dem Demonstrationszug vom Hauptbahnhof nach Rüttenscheid angeschlossen hatten. 70.000 seien es am ganzen Wochenende gewesen. Die Polizei nannte bislang noch keine Teilnehmerzahl.
Befürchtungen, es könnte in Rüttenscheid Ausschreitungen geben, bewahrheiten sich nicht
Niemand hat nachgezählt, aber es waren viele, sehr viele. Als am Samstag gegen Mittag die ersten die Brücke auf der Alfredstraße nahe der Grugahalle erreichen, setzen sich am Hauptbahnhof die letzten gerade erst in Bewegung, hieß es aus dem Lautsprecherwagen, der den Protestzug anführte.
Junge und Alte sind darunter, Pfadfinder, Initiativen aus Kirchen, Parteien und viele, die sich einfach entschieden haben, auf die Straße zu gehen. Der Protest ist kreativ und bunt, viele haben selbstgemalte Schilder und Transparente dabei. Das Wichtigste aber: Diese Demonstration verlief friedlich. Befürchtungen, es könnte in den Straßen Rüttenscheids zu Ausschreitungen kommen, bewahrheiteten sich nicht. Weder gehen Schaufensterscheiben zu Bruch, noch geparkte Autos in Flammen auf.
Die Interessengemeinschaft Rüttenscheid (IGR) hatte zuvor Einzelhändlern und Gastronomen empfohlen, darüber nachzudenken, ob sie während des Parteitages nicht besser schließen. Die Läden wären wegen der Straßensperren nur schwer oder gar nicht erreichbar werden, so der IGR-Vorsitzende Rolf Krane. Einige Händler, aber nicht alle, folgten der Empfehlung der IGR und machten gar nicht erst auf. Sie hätten getrost öffnen können.
Gewaltfrei bleibt der Tag aber nicht, Polizei und Demonstranten beklagen Verletzte
Gewaltfrei aber verlief dieser Tag nicht. Wie die Polizei am Samstagabend in einer ersten Zwischenbilanz berichtete, wurden 27 Beamtinnen und Beamten bei Auseinandersetzungen leicht verletzt, ein Polizist sei durch Tritte und Schläge schwer verletzt worden. Zunächst war von zwei Schwerverletzten die Rede. Im Krankenhaus hätten sich Verletzungen, die eine Beamtin davon getragen hatte, als nicht so gravierend erwiesen.
Auch aufseiten der Demonstranten habe es Verletzte gegeben, sagte Katharina Schwabedissen, Sprecherin von „Widersetzen“, am Sonntag, ohne Zahlen zu nennen. Ihren Worten nach wurde Demonstrierenden von Polizisten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, anderen sei an den Haaren gezogen worden. Friedlicher Protest sei von Teilen der Polizei „niedergerungen worden“, klagte Schwabedissen und nannte dies einen Skandal.
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Delegierte der AfD werden unter Polizeischutz zur Grugahalle eskortiert
„Widersetzen“ hatte zuvor angekündigt, „zivilen Ungehorsam“ zu leisten. An zehn „Blockadepunkten“ sollte Parteitagsdelegierten der Zugang zur Grugahalle verwehrt werden. Einige Delegierte wurden daraufhin von Polizeibeamten eskortiert, darunter drei AfD-ler, die von Demonstranten in einer Bäckerei festgesetzt worden waren.
Es kam zu Sitzblockaden und nach Angaben der Polizei zu „gewaltsamen Störaktionen“, an denen sich teils mehrere hundert Personen beteiligten. „Im Rahmen dieser gewalttätigen Aktionen mussten unsere Kolleginnen und Kollegen wiederholt Gebrauch vom Schlagstock und Reizgas machen.“ Zehn Personen wurden laut Polizei in Gewahrsam genommen. Diese Zahl nennt auch „Widersetzen“. Auf einem Video ist zu sehen, wie ein Polizeibeamter mit einem Schlagstock auf am Boden sitzende Demonstranten einschlägt.
Die Versammlung auf dem Parkplatz P2 verläuft friedlich, mit einer Ausnahme
Oberbürgermeister Thomas Kufen verurteilte die „bewussten Störaktionen, bei denen es zu Gewalt insbesondere gegen die Polizei gekommen ist“ in seiner Stellungnahme am Samstagabend scharf. Essens Ordnungsdezernent Christian Kromberg bedauerte, dass gewalttätige Aktionen „einen Schatten“ auf die sonst sehr friedliche Demonstration geworfen habe.
Friedlich verlief auch die Versammlung, zu der die „Allianz für Weltoffenheit“, ein Bündnis aus Stadt, Kirchen, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, auf den Messeparkplatz P2 am Girardetzentrum geladen hatten. Mit einer Ausnahme: Als die Polizei einen jungen Mann abführte, mutmaßlich nach dem dieser einen Stein geworfen hatte, bauten sich Aktivisten aus dem politisch linken Spektrum vor den Beamten auf, und forderten dessen Freilassung, augenscheinlich erfolglos. Mitglieder sogenannter K-Gruppen waren bereits auf der Demonstration lautstark vertreten, aber zahlenmäßig eine kleine Minderheit.
Laut Christian Kromberg fanden sich gegen 13 Uhr 25.000 Personen zur Versammlung auf dem P2 auf. Die Veranstalter hatten sich auf bis zu 45.000 Personen eingestellt; mehr wären mangels ausreichender Fluchtwege nicht auf den weitläufigen Parkplatz gelassen worden.
Als das Bühnenprogramm beginnt, haben viele den P2 bereits wieder verlassen
Als „größtes Problem“, so Kromberg, erwies sich dann allerdings die Hitze. Bei 27 Grad und Sonne heizten sich Asphalt und Schotter dermaßen auf, dass es sich anfühlte wie ein Backofen. Dies dürfte ein Grund dafür gewesen sein, warum viele den Platz bereits wieder verlassen hatten, als etwa eine Stunde später das Bühnenprogramm begann.
Letzteres stand ganz im Zeichen von Demokratie, Vielfalt und Kritik an der AfD. Deren Politik stehe im Widerspruch zu christlichen Werte, die sie vertrete, sagte Marion Greve, Superintendentin des Evangelischen Kirchenkreises Essen. Anja Weber, DGB-Vorsitzende in NRW, und Evonik-Chef Christian Kullmann, die sich seinen Worten nach sonst „streiten wie Don Camillo und Peppone“, zeigten sich diesmal in der Sache einig: Die AfD gefährde durch ihre Politik „Jobs und Wohlstand“.
Am Nachmittag war die Menge vor der Bühne überschaubar. Dennoch: Die Versammlung habe gezeigt, „wie Essen tickt“, sagt Christian Kromberg.
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