Essen. Ernüchternde Arztbesuche, fehlende Psychologen, Barrieren im Nahverkehr, unerfüllte Berufswünsche: Was Menschen mit Behinderung in Essen erleben.
Dirk Boehme aus Essen-Kray hatte keinen leichten Start ins Leben. Bei der Geburt des heute 60-Jährigen traten Komplikationen auf: „Ich hatte eine Zangengeburt. Dabei wurden Nerven abgeklemmt, was zur Folge hat, dass die Funktion meines rechten Armes stark eingeschränkt ist. Dazu habe ich noch Epilepsie.“ Oft müsse er sich auf der Straße Beleidigungen wie „Einarmiger Bandit“ anhören. „In solchen Momenten weine ich nicht äußerlich, aber innerlich.“ Drei Essener mit Handicap berichten.
Von Gleichstellung in der Gesellschaft seien Menschen mit Handicap weit entfernt, findet Dirk Boehme. Auch Fikria Aab-Baz aus Huttrop macht sich stark für Inklusion. „Alle reden über Inklusion, aber viel zu wenige Menschen leben sie“, findet die 40-Jährige. Sie hat durch eine Infektion, die sie im Kindesalter erlitten hat, eine Sprachbehinderung. Kommunizieren kann Fikria Aab-Baz nur durch einen Sprachcomputer. „Allein die Tatsache, dass den meisten Menschen der Protesttag nicht bekannt ist, sagt schon viel aus. Ich habe bereits viele Gespräche mit Politikern zum Thema Gleichstellung geführt, keines der gemachten Versprechen wurde aber seitens der Politiker eingehalten“, bedauert Aab-Baz.
Fragt man Dirk Boehme nach den alltäglichen Hürden, die man als Mensch mit Behinderung überwinden muss, fällt ihm sofort der öffentliche Nahverkehr ein: „Viele Bahnhöfe in Essen sind nicht barrierefrei. Oft sind Aufzüge oder Rolltreppen kaputt. Teilweise müssen Menschen mit Handicap große Umwege in Kauf nehmen, um an ihr Ziel zu gelangen.“ Es müsse in Essen dringend mehr für Menschen mit Einschränkungen getan werden, so Boehme.
Auch der Wunsch, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten, beschäftigt viele Menschen mit Behinderung, erzählt Dirk Boehme: „Die allermeisten Menschen mit Handicap kommen nur in Behindertenwerkstätten unter, um zu arbeiten. Viele haben aber ganz andere Berufswünsche. Ich zum Beispiel würde gerne als Pförtner in einem ganz normalen Betrieb arbeiten, was aber offenbar durch meine Einschränkung nicht möglich ist.“
Auch Fikria Aab-Baz habe im Berufsleben schon viel Ablehnung erfahren. Ihr Traum sei es, mit Kindern zu arbeiten, beispielsweise als Schulbegleiterin. „Ich habe es elf Jahre lang in einer Behindertenwerkstatt probiert, war dort aber vollkommen unterfordert. Ich habe mich dann mehrfach auf dem ersten Arbeitsmarkt beworben, wurde aber immer abgelehnt.“
Dass die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt aber nicht immer ungeeignet sein muss, erzählt Andreas Biester aus Huttrop. Der 51-Jährige arbeitet in der Digitalisierung einer Behindertenwerkstatt: „Ich bin sehr zufrieden mit meinem Job und fühle mich sehr wohl.“ Neben seinem Job ist Biester Prüfer für leichte Sprache. Hierbei wird bewertet, ob beispielsweise offizielle Texte zum Thema Gewaltprävention in einfacher Sprache, gut verständlich für Menschen mit Einschränkungen sind.
Protesttag zur Gleichstellung
Nach der UN-Behinderten-Rechtskonvention müssten Menschen mit Behinderung dieselben Rechte haben wie Menschen ohne Behinderung. Dazu rufen jedes Jahr am 5. Mai zahlreiche Behindertenverbände zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auf. Der Protesttag wurde 1992 von der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland“ ins Leben gerufen.
Auch in Essen haben Organisationen und Initiativen diesen Tag zuletzt genutzt, um auf Gelände des Welterbes Zollverein eine gemeinsame Aktion zu veranstalten. Unter dem Motto „Redet mit uns – statt über uns!“ erzählten Menschen mit Behinderungen aus ihrem Leben und luden mit verschiedenen Aktivitäten dazu ein, sich für Selbstbestimmung, Barrierefreiheit und eine inklusive Gesellschaft stark zu machen.
Neben Ausgrenzung, Beleidigungen und fehlender Barrierefreiheit sei auch die medizinische Versorgung von Menschen mit Handicap problematisch, weiß Daniela Keil (54) von der Aktion Menschenstadt in Essen: „Es gibt zu wenige Ärzte, die sich auf die Versorgung von Menschen mit Behinderung spezialisiert haben. Auch Psychologen, die besonders auf Menschen mit Einschränkungen spezialisiert sind, sind Mangelware. Die Wartezeiten auf Termine sind ewig lange.“
Fikria Aab-Baz macht auch bei Arztbesuchen regelmäßig ernüchternde Erfahrungen: „Die Ärzte sind oft damit überfordert, mit mir zu kommunizieren. Da ich mit dem Sprachcomputer Zeit brauche, um mich zu artikulieren, wird mir oftmals nicht zugehört, sondern lieber mit meiner Begleitung über mich und meine Gesundheit gesprochen.“
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Es gebe aber auch positive Veränderungen in puncto Inklusion, erzählt Daniela Keil: „Beim Thema Kultur zeigt sich eine deutlich bessere Zugänglichkeit für Menschen mit Handicap. Beispielsweise die Zeche Zollverein ist aktuell sehr bemüht darum, barrierefrei zu werden. Im Sport sehen wir ebenfalls, dass Inklusion mehr gelebt wird.“
Auch die Tatsache, dass es in Essen einen Inklusionsbeirat gibt, dessen Gründung im Februar 2022 beschlossen wurde, begrüße Keil sehr: „Man sieht, dass politisch auf Stadtebene aktuell einiges passiert und das lässt uns hoffen. Es bräuchte in Zukunft viel mehr Begegnungsstätten, um Berührungsängste abzubauen.“
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