Ruhrgebiet. Revier oder Regenwald? Seit die Emscher sauber ist, erobern Tiere und Pflanzen den Lebensraum zurück. Wer neben Groppe und Libelle noch einzog.
Die ersten Neuen kamen „über Nacht“, jedenfalls konnten die Biologen so schnell gar nicht gucken. Der Wolfmilchschwärmer und die Kleine Sommerwurz, das Moderlieschen auch – obwohl das vielleicht bloß abgehauen war aus irgendeinem Teich. Noch nicht einmal ein Jahr lang fließt kein Dreck mehr in die Emscher und ihre Zuflüsse, aber Tiere und Pflanzen haben sie in Windeseile zurückerobert. 820 Arten haben Experten im und am Wasser gezählt – allein dort, wo es neuerdings wieder in den Rhein fließt.
Wenn Gunnar Jacobs da unten im Bach steht, die Füße in Gummistiefeln, den Kescher in der Hand, dann ist der Landschaftsökologe jedes Mal ein bisschen gerührt. Klares Wasser gluckert um seine Beine, junge Bäume neigen sich über das kleine Idyll… „Könnte das nicht auch ein Stück vom Regenwald sein, irgendwo in Südamerika?“ Es ist allerdings Essen, Stadtteil Frohnhausen, in der Nähe rauscht die Autobahn.
Abwasser des Ruhrgebiets fließt jetzt durch unterirdischen Emscher-Kanal
An dieser Stelle ist ein Emscher-Zufluss schon ein paar Jahre länger wieder „clean“. Die ersten, die hier einzogen zum Wohnen am Wasser, nennen sie die „Pionierarten“: kleine Pflanzen und Lebewesen, die darauf eingestellt sind, auch Naturkatastrophen zu überstehen. Nur war das hier keine Naturkatastrophe, sondern das Gegenteil: Nach mehr als 100 Jahren hat die Emschergenossenschaft ihren Fluss, der nur noch eine Kloake war, gewissermaßen unterkellert. Seither fließt das Abwasser durch einen eigenen Kanal, und kaum war es weg, kam das Leben zurück. In Frohnhausen sieht die alte „Köttelbecke“ schon wieder aus, wie sie hier eigentlich heißt, Borbecker Mühlenbach.
Uferschwalbe und Flussregenpfeifer hat Gunnar Jacobs früh gesehen, Köcherfliegenlarven und Bachflohkrebse entdeckt er in Schlamm und altem Laub. Weiden wachsen am Ufer, Pappeln, Schwarzerle, Feldahorn oder Haselnuss. Bäume, die kümmerlich bleiben, sterben ab, das Totholz baut mit dem Herbstlaub Dämme – und damit neue Lebensräume. „Der Wald lichtet sich selbst aus“, weiß der Experte. Das eine oder andere haben sie angepflanzt, aber stabiler bleibt, was sich selbst angesiedelt hat. „Die Natur“, sagt Jacobs, „ist für sich selbst der beste Ratgeber.“
Und doch haben sie an diesem Bach ein kleines Bisschen nachgeholfen. Das alte kerzengerade Betonprofil des offenen Abwasserflusses ist weg, zwei Meter Böschung wurden abgegraben; seither mäandert das Bächlein wieder über Stock und Stein. Sechs Jahre ist es her, dass sie hier feierlich einen Fisch einsetzten, der hierhergehört wie keiner: die Emschergroppe. „Ein echter Ruhri“, der die Jahre, in denen das ganze Ruhrgebiet sein Schmutzwasser in seinen Lebensraum schüttete, in einem kleinen Stückchen Boye überlebte, das sauber blieb. Und sich im Borbecker Mühlenbach offensichtlich vermehrt: Das Fischchen, das Gunnar Jacobs zum Zeigen kurzfristig umzieht in eine Schüssel, ist zwar ausgewachsen, „aber erst etwa ein Jahr alt, also definitiv hier geboren.“ In der Nachbarschaft wurde zudem der Eisvogel gesichtet und im Wasser der Dreistachelige Stichling.
Leben an und in der Emscher: 360 Pflanzen, 26 Spinnentiere, 69 Vogelarten
Was das bedeutet für die Region, sagt der Experte der Emschergenossenschaft in einem Satz: „Es macht einen Unterschied, ob da Köttel langschwimmen oder man einen Stein hochhebt und entdeckt eine Groppe darunter.“ Wie herrlich für die Kinder, die nicht mehr am Zaun stehen und auf Beton blicken. Wie angenehm für die Anwohner, hinter deren Gärten es nicht mehr stinkt. Ein Bonus, freut sich Jacobs und sucht nach Worten. „Ein Stück Lebenswerk!“ Doch natürlich nicht nur seines: Es ist das von so vielen, die mithalfen über die Jahre bei diesem besonderen Großreinemachen und die sich freuten beim großen Zählen an der Emschermündung.
Dort lag die frische Flutung noch nicht einmal ein halbes Jahr zurück, als sie erfassten: 360 verschiedene Pflanzen von der Alge über stark gefährdete Arten wie der Kleine Sommerwurz. Fast 300 Insektenarten, darunter 90 Schmetterlingsarten, zwölf verschiedene Säugetiere, 26 Spinnentiere, acht Amphibien, zehn Fischarten von Bachforelle über Rotauge bis Giebel, 69 verschiedene Vögel wie Austernfischer oder Baumfalken. Vielleicht das Beste unter den 820: die Blauflügelige Prachtlibelle. Eine „Flaggschiffart“, wie Ökologen sagen, weil sie anspruchsvoll ist und nur siedelt, wo Wasserqualität und Uferbewuchs besonders gut sind.
Zwar mogelten sich invasive Arten in die neue alte Emscher, wie mehrere Grundelarten oder der Blaubandbärbling. „Darauf“, sagt Gunnar Jacobs, „haben wir nicht gewartet, aber auch damit müssen wir zurechtkommen.“ Die Biodiversität war schließlich gewollt, nun muss man sie weiter beobachten. Und apropos: Der Wolfmilchschwärmer ist ein Nachtfalter. Und das Moderlieschen, auch Sonnenfischchen oder Zwerglaube genannt, ein Kleinfisch aus der Familie der Karpfen.