Essener Norden. AfD-Politiker Guido Reil muss das EU-Parlament verlassen und dockt jetzt wieder in Karnap an. Ob das mehr ist als ein Sprungbrett, bleibt offen.

In einer Traditionskneipe an der Altenessener Straße wird er umarmt und willkommen geheißen, doch wenige Meter weiter wurde Guido Reil beim Stadtteilfest schon der Handschlag verwehrt, mancher betitelt ihn auf offener Straße betitelt als „Neonazi“. Zuneigung und Hass – wenn es um den immer noch bekanntesten Essener AfD-Politiker geht, liegen die Extreme nah beieinander. Und nun ist der 53-Jährige auch politisch wieder in seiner Heimat, dem Essener Norden, angekommen – und zwar im Sinkflug vom Europaparlament in die Bezirksvertretung, von der großen Politik in das Basement des Politikbetriebs, dem Stadtteil-Parlament. Was will er dort?

Zunächst ist Reil nun wieder dort, wo für ihn vor langer Zeit einmal alles begann. Dennoch dürfte die Rückkehr in die Stadtteilpolitik alles andere als freiwillig sein für den einstigen Sozialdemokraten, der in der Flüchtlingskrise 2015/2016 zur rechtspopulistischen AfD wechselte. Eine erneute Kandidatur für das Europaparlament wurde Reil auf dem Nominierungsparteitag seiner Partei versagt, bis zur nächsten Wahl im Juni 2024 hat er aber noch sein Mandat.

Guido Reil (AfD) wäre gerne Oberbürgermeister in Essen

In der Bezirksvertretung 5, zuständig für die Stadtteile Karnap, Altenessen und Vogelheim, nimmt Reil den Platz von AfD-Ratsherr Hermann Postert ein, der sein Mandat zugunsten des EU-Politikers niedergelegt hat. Die Aufwandsentschädigung für ein einfaches BV-Mitglied beträgt keine 300 Euro monatlich, ein Bruchteil dessen, was Reil als EU-Parlamentarier erhält.

Worum geht es dem ehemaligen Bergmann also dann? Auf der Straße erkannt (und zuweilen beschimpft) wird er jetzt auch schon. Fehlt ihm die mediale Aufmerksamkeit, die ihm sein Übertritt von der SPD zur AfD einst bescherte? Während seiner Zeit in Brüssel war es jedenfalls eher still um ihn. Oder braucht er eine Schippe lokale Popularität für einen kommunal- und bundespolitischen Karriereplan?

Tatsächlich dürfte sich Reil mit BV-Themen wie Bordsteinabsenkungen, einem Mobilitätskonzept im Bahnhofsumfeld Altenessen und weiteren Angelegenheiten, die die Menschen im Essener Norden unmittelbar betreffen, in Wirklichkeit nicht lange aufhalten wollen.

Die Bezirksvertretung scheint Guido Reil vielmehr bloß als Sprungbrett zu sehen: Ohne einen Anflug von Selbstzweifel erzählt Reil, dass er gerne Oberbürgermeister der Stadt Essen wäre: „wenn ich es mir aussuchen könnte“. Außerdem spekuliert er bereits auf ein Direktmandat für den Bundestag, wenn 2025 das nächste Mal gewählt wird.

AfD-Politiker positioniert sich nicht eindeutig

Auch wenn seine Ambitionen als AfD-Politiker immer größer waren als die tatsächlichen Wahlergebnisse, konnte Reil im Essener Norden Achtungserfolge verbuchen. Bei der Landtagswahl 2017 träumte er vom Direktmandat, es wurden dann 13 Prozent der Stimmen als Kandidat im Nordwahlkreis. Mager, aber doch deutlich mehr als damals seine Partei in Essen insgesamt erhielt.

Jetzt will er auf der bundespolitischen Welle surfen. Und seine Rückkehr fällt mitten ins Umfragehoch seiner Partei: Laut ARD-Deutschlandtrend liegen die Werte der AfD bei 21 Prozent, Platz zwei hinter der CDU/CSU. In einigen Ruhrgebiets-Wahlkreisen, etwa im benachbarten Gelsenkirchen, könnte es – Stand jetzt – für ein AfD-Direktmandat knapp reichen. Reil hofft, vom Aufwind zu profitieren, will seinen Wahlkampf „bürgernah, mit Bratwurst und Bier“ führen, wie er in seinem typischen Jargon verkündet.

Ex-SPD-Vize: „Die Leute binden ihre Hoffnungen an Reil“

Die damalige Kritiker-Riege in der Essener SPD-Ratsfraktion auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise (v.l.): Guido Reil, Thomas Rotter, Karlheinz Endruschat und die sachkundige Bürgerin Angelika Weihnacht 2016 zu Gast in der Redaktion.
Die damalige Kritiker-Riege in der Essener SPD-Ratsfraktion auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise (v.l.): Guido Reil, Thomas Rotter, Karlheinz Endruschat und die sachkundige Bürgerin Angelika Weihnacht 2016 zu Gast in der Redaktion. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

„Die Leute binden ihre Hoffnung an ihn“, sagt Karlheinz Endruschat, der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Essener SPD. In der Flüchtlingskrise waren Reil und er politisch eng beieinander, später brach Endruschat mit ihm. Mittlerweile ist der 72-Jährige ebenfalls bei den Sozialdemokraten ausgetreten und parteilos. „Die fehlende Präsenz der anderen Parteien im Essener Norden stärkt die AfD“, meint Endruschat.

Anders gesagt: Würden SPD, CDU, Grüne, Linke, Bürgerbündnis und FDP offensiver und aktiver agieren, wäre die AfD womöglich stärker im Zugzwang, sich inhaltlich zu positionieren. In den vergangenen Jahren sind AfD-Politiker im Stadtteil allerdings auch praktisch nie aufgetreten. Das könnte sich jetzt ändern. Karlheinz Endruschat: „Im Wahlkampf muss Reil sich zu wichtigen Themen positionieren, um erfolgreich zu sein.“

Doch macht wer das? Was hat der AfD-Politiker der Basis inhaltlich zu bieten? „Ich hoffe, durch meine Anwesenheit den Fokus auf die Probleme im Essener Norden zu legen“, sagt Guido Reil und nennt dann Allgemeinplätze, die auch von anderen Parteien kommen könnten: „Bildung, Infrastruktur und Wohnraum“.

Guido Reil (AfD) glaubt an Brandmauer im Essener Norden

Zur Erweiterung des muslimischen Grabfeldes auf dem Hallo-Friedhof will sich Guido Reil (AfD) nicht äußern.
Zur Erweiterung des muslimischen Grabfeldes auf dem Hallo-Friedhof will sich Guido Reil (AfD) nicht äußern. © WAZ FotoPool | Knut Vahlensieck

Nun ist die AfD eine Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird, deren thüringischer Landesverband als „gesichert rechtsextremistisch“ gilt. Reil selbst gilt als gemäßigt, war Mitstreiter des früheren AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen, der austrat und die Partei heute sehr kritisch sieht. Dennoch oder gerade deshalb dürften sich die Anhänger im Essener Norden zum Beispiel für Reils Meinung zum Bau der Moschee an der Karnaper Straße und zur Erweiterung des muslimischen Grabfeldes auf dem Hallofriedhof interessieren. Reil will dazu aber auf Nachfrage nichts sagen. Von einem AfD-Politiker würde die Basis wohl bei beiden Themen ein klares „Nein“ erwarten. Das bleibt aus.

Und das Zentrum für Kooperation und Inklusion (KD 11/13) an der Karl-Denkhaus-Straße in dem diverse Migrantenvereine agieren? Da müsse er sich erst einlesen, grundsätzlich sei eine Institution wie diese aber wichtig, sagt er. Sattelfest bei Themen, die in seinem Heimatsprengel aktuell sind, scheint der Karnaper derzeit nicht zu sein.

In der Bezirksvertretung am Dienstag (26.9.) wird ihm – nicht nur deswegen – niemand um den Hals fallen, dessen ist er sich bewusst. Er weiß auch dass Anträge der AfD dort kategorisch abgelehnt werden: „Ich glaube nicht, dass die Brandmauer dort fällt.“ Reil setzt aber darauf, dass Anträge, die von der AfD gestellt werden im ersten Schritt abgelehnt und im zweiten Schritt dann von einer der anderen Parteien erneut gestellt und erfolgreich beschieden werden. Wenn er also was bewirken will, wäre die Arbeit in einer der anderen Parteien doch weniger frustrierend. Das kommt für den Essener nicht in Frage: „Ich habe mit meinem Wechsel alles richtig gemacht.“ Die AfD sei die einzige Partei, mit der er in Kernfragen übereinstimme.

Kein Patentrezept beim Thema Migration

Dazu gehört auch das Thema Migration. Dazu hat der Essener nach wie vor eine klare Meinung: „Das große Problem ist, dass Teile der Gesellschaft es ablehnen, unsere Grenzen zu schützen und einfach sagen, Migration ist immer eine Bereicherung.“ Er selbst unterscheide zwischen „echten Flüchtlingen“, das seien beispielsweise jene aus der Ukraine, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen, und jenen Flüchtlingen, die das Sozialsystem in Deutschland ausnutzen würden.

Welche Regeln braucht es, um die Migration besser zu steuern? Wie umgehen mit Geflüchteten mit Blick auf den Fachkräftemängel, der sein Gesicht beispielsweise in der Gastrobranche in Essen zeigt? Wie kann Integration besser gelingen? Fragen, mit der sich derzeit sämtliche Parteien vor allem auf bundespolitischer Ebene quälen. Einfache Antworten sind nicht in Sicht. Auch Guido Reil sagt: „Ein Patentrezept habe ich nicht.“

Die Migrationspolitik ist ein Thema, das in Zukunft nur sehr indirekt auf der Tagesordnung der Bezirksvertretung stehen wird. Dort will Guido Reil ab sofort wieder mitmischen. Das nächste Mal am Dienstag, 26. September, um 16 Uhr im Friedrich-Ebert-Seniorenzentrum an der Schonnefeldstraße. Besucher sind willkommen. (mit F.S.)

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