Rees. Handarbeit ist derzeit nicht nur auf Social Media ein riesiger Trend. Warum? Eine Spurensuche im neuen Strick- und Häkelcafé in Rees.
Als Heike Psenitza mit ihrer Schwester Sabine Neudert im gemeinsamen Norwegen-Urlaub in ein Handarbeitsgeschäft eintraten, staunten die beiden Reeserinnen nicht schlecht. „Der Laden war voller junger Leute“, sagt Psenitza noch immer hörbar beeindruckt vom Besuch im September. „Stricken ist in Norwegen das Hobby Nummer Eins. Junge, Alte, Frauen und Männer – alle stricken oder häkeln dort.“
+++ Abonnieren Sie den Kanal NRZ Emmerich auf WhatsApp +++
Die Pullover, Mützen und Handschuhe mit den Norwegermustern sind berühmt. Doch auch außerhalb von Skandinavien und vor allem über die Sozialen Medien ist in den vergangenen Jahren ein wahrer Hype ums Stricken und Häkeln ausgebrochen. Nur ein Zeitvertreib für Omas? Mitnichten! Wer etwa auf der Plattform TikTok nach „crochet“, dem englischsprachigen Begriff für häkeln sucht, der findet sofort zahlreiche Erklärvideos, die millionenfach angesehen wurden.
Wie der Handarbeits-Hype entstand
Der britische Superstar Harry Styles gilt als derjenige, der den jüngsten Hype um die Handarbeit ausgelöst hat. Nachdem der Sänger im Februar 2020 einen bunten Patchwork-Cardigan in der US-amerikanischen Today Show getragen hatte, gab es auf Social Media kein Halten mehr. Das Wollteil des Labels JW Anderson wurde immer und immer wieder nachgestrickt und brachte es so zu weltweiter Berühmtheit. Das Original kam sogar ins Londoner Victoria & Albert Museum. Kurz nach Harry Styles‘ Fernsehauftritt brach dann Corona über die Welt herein, und stricken und häkeln wurden für viele zu perfekten pandemietauglichen Beschäftigungen.
Mittags am Markt bietet einen gemütlichen Ort
Von viralen Videos oder musealer Ehre träumen die Frauen, die an diesem Herbstmontag im Mittags am Markt in Rees zusammensitzen nicht. Sie haben einfach Freude an dem, was sie mit ihren Händen schaffen. Draußen ist der Himmel grau, drinnen die Atmosphäre gemütlich. Heike Psenitza hat zum ersten Strick- und Häkelcafé eingeladen, das sich an Anfänger und Fortgeschrittene richtet. Nach ihrem Norwegen-Urlaub packte sie das erste Mal seit bestimmt 20 Jahren ihre Stricknadeln wieder aus, kaufte sich Fachliteratur und strickte zusammen mit ihrer Schwester Sabine Neudert gleich einen warmen Norweger-Pulli.
Strick- und Häkelcafé
Das Strick- und Häkelcafé für Anfänger und Fortgeschrittene findet immer montags von 14 bis 16 Uhr im Mittags am Markt, Markt 38 in Rees, statt. Initiatorin Heike Psenitza hat bis einschließlich 2. Dezember erst einmal fünf weitere Termine festgelegt, freut sich aber, wenn das Angebot auf Interesse stößt und fortgesetzt wird.
Die Teilnahme ist – bis auf den Verzehr im Café – kostenlos. Die Teilnehmenden bringen ihre Materialien selbst mit. Heike Psenitza beantwortet Fragen und nimmt Anmeldungen telefonisch entgegen unter 0171/2771671.
„Ich frage gerne andere und lasse mir die Technik zeigen“, sagt die Inhaberin der Stickerei Moment mal an der Weseler Straße. „Da schien es mir eine gute Idee, sich mit mehreren zu treffen und andere Leute und ihre Geschichten kennenzulernen.“ Zusammen mit ihrer Freundin Kerstin Clappers, die im Reeser Verein Fremde werden Freunde aktiv ist, organisierte sie alles Notwendige für das neue Strick- und Häkelcafé. Mit dem Mittags am Markt war schnell ein Ort gefunden. „Ich gehe gerne hier hin und finde, dass die Räumlichkeiten noch mehr genutzt werden könnten“, meint Psenitza.
Stricken auf dem Schiff gelernt
Renate Becker freut sich über das neue Angebot. Die 75-Jährige ist aus Emmerich in die direkte Nachbarschaft ihrer Tochter nach Rees gezogen. „Es ist nett hier, aber mir fehlten soziale Kontakte“, erzählt Becker. Beim gemeinsamen Stricken und Häkeln kommen die Frauen sehr schnell ins lockere Gespräch, zumal die Neu-Reeserin eine echte Frohnatur ist. Ihr Vater war Binnenschiffer, als Kind fuhr sie mit ihren Eltern stets von Rotterdam bis Basel den Rhein hinauf und herunter. „Ich stricke seit meinem fünften Lebensjahr. Was wollen Sie auf einem 63 Meter langen Kahn mit einer 40 Quadratmeter großen Wohnung auch anderes machen?“, fragt sie in die Runde.
Becker strickt gerade mit großer Fingerfertigkeit Söckchen und Mützchen für die Frühchen im Klever St.-Antonius-Hospital. Sie hat aber auch schon viele andere Kleidungsstücke produziert, etwa einen Bolero als Teil eines Twinsets. Ihre beschenkte Freundin habe den Unterschied zum 340 DM teuren Original aus dem Modegeschäft nicht erkannt, erzählt sie mit einigem Stolz. Die Handarbeit bereitet anderen Freude – aber auch sich selbst. „Nichts ist entspannender als Stricken“, findet Renate Becker.
„Jede einzelne Masche ist selbst gemacht, jedes Teil ist ein Unikat“
Anfängervideos auf You Tube helfen
Ihre Sitznachbarin Nina Glöser empfindet Häkeln gar als „therapeutisch“. Sie fertigt im Café weiche Puschen für ihren Mann und die drei Söhne. Latex wird die Sohle der Hausschuhe später noch rutschfest machen. Dass Glöser eine Meisterin mit der Häkelnadel ist, hat sich schon längst in ihrem Familien- und Freundeskreis herumgesprochen. Erst kürzlich hat sie eine Bestellung für eine Sommer-Kombination aus Top und Rock angenommen.
„Die Möglichkeiten sind fast grenzenlos. Es gibt so viele verschiedene Strukturen, die man häkeln kann“, schwärmt die Mutter. Für Schals, Mützen, Tücher, Socken, Hundepullover, Handytaschen und vieles, vieles mehr gibt es das jeweils richtige Garn und den passenden Stil – mal lockerer, mal fester. Was sich wie eine Wissenschaft anhört, soll Neueinsteiger aber nicht abschrecken. „Es gibt auf You Tube tolle Anfängervideos“, sagt Nina Glöser. Und Renate Becker ergänzt: „In eineinhalb Wochen kann man Häkeln lernen.“
Lesen Sie auch diese Nachrichten aus Emmerich, Rees und Isselburg
- Emmerich: Schneegestöber im Kreis Kleve
- Emmerich: Das bietet der Weihnachtsmarkt in Praest
- Isselburg: Autofahrer stirbt nach Kollision
- Emmerich/Rees: Diese Übergänge der Bahn werden voll gesperrt
- Rees: Die Nationalparkdiskussion in Rees
Jedes Teil ist ein Unikat
Mit Geduld und einiger Übung hält Frau oder Mann dann irgendwann ein stylisches Kleidungsstück in der Hand, zu dem eine ganz besondere Beziehung besteht. „Jede einzelne Masche ist selbst gemacht, jedes Teil ist ein Unikat. Es macht mich stolz, dies zu tragen“, sagt Heike Psenitza.