Emmerich-Elten. Zur Toten, die im August 2023 in Elten aufgefunden wurde: Konnte mordverdächtiger Linkshänder tödliche Schnitte mit rechts ausführen?

Es gehe nicht darum, ob der Angeklagte der Täter ist oder nicht, stellt Verteidiger Andreas Trode klar. Sondern ob sein Mandant in der Lage gewesen wäre, der Getöteten von hinten mit der rechten Hand die Kehle durchzuschneiden. Daran knüpft die Staatsanwaltschaft das Mordmerkmal der Heimtücke.

Es geht um den Fall der im August 2023 in Elten nahe der Autobahn gefundenen Toten: Wie berichtet möchte Trode von einem Gutachter feststellen lassen, dass der Beschuldigte Linkshänder ist – und, wie er am Freitag, 7. Juni, im Siegener Landgericht seinen Beweisantrag präzisiert, dass „dieser Angeklagte mit der rechten Hand nicht in der Lage war, der Getöteten die zugefügten Verletzungen in Hals und Nacken zuzufügen“. Der Mordprozess vor der 1. Großen Strafkammer könnte womöglich in eine weitere Verlängerung gehen.

Eigentlich war für diesen Freitag die Urteilsverkündung geplant, mit dem Beweisantrag zur Linkshändigkeit musste das aber verschoben werden. Über den hat das Gericht noch nicht entschieden. Zunächst soll der Rechtsmediziner, der den Leichnam der 23-Jährigen obduzierte, ein weiteres Mal vor Gericht aussagen (voraussichtlich am Dienstag, 25. Juni, eigentlich sind hier die Plädoyers geplant) und genauere Angaben zu den Wunden machen; insbesondere ob sie von vorn oder hinten, mit der rechten oder linken Hand zugefügt wurden.

In einem Telefonat mit der Kammer hatte der Gutachter bereits bestätigt, dass seiner Einschätzung nach auch ein Linkshänder sehr wohl in der Lage gewesen wäre, die Schnitte und Stiche mit der schwächeren rechten Hand durchzuführen – zumal das Tatgeschehen dynamisch gewesen sei, die Personen ihre Position verändert hätten, auch das Messer in die andere Hand habe wechseln können. Letztlich sei das anhand der Spurenlage aber sehr schwierig festzumachen, da die tiefen Wunden ineinander übergingen – es lasse sich nicht einmal sagen, um wie viele einzelne Schnitte oder Stiche es sich handle.

Landgericht Siegen: Im Mordprozess sollen noch diverse Fragen geklärt werden

Der Angeklagte bestätigt auf Nachfrage der Kammer: Er sei Linkshänder. Dagegen hält die Nebenklage: Das sei falsch. Sie legt Fotos vor, die den Angeklagten zeigen, wie er sein Handy mit rechts bedient, unter anderem bei einem Selfie mit dem späteren Opfer und ihrer Familie. Dafür brauche es eine gewisse Feinmotorik, die Verteidiger Trode in seinem Beweisantrag für seinen Mandanten bestritten hatte: Tätigkeiten die Kraft, Schnelligkeit, Komplexität erfordern, führe er ausschließlich mit links aus.

Dagegen hält die Nebenklage auch, dass der Beschuldigte Muslim ist: Im Islam gelte die rechte Hand als „reine“ Hand, die für wichtige Tätigkeiten verwendet werde. „Ein Ehrenmord mit links ist nicht plausibel.“ Der von der Verteidigung bevorzugte Gutachter könne zudem kaum in so kurzer Zeit ein Gutachten erstellen; zumal er nicht mehr bei der Charité angestellt sei und dort auch nicht mehr als Gastwissenschaftler arbeite. Vielmehr sei er mit einer Veranstaltungsreihe zur Rechtsmedizin auf Tour. Auch die Staatsanwaltschaft hält diese Begutachtung für „nicht beweiserheblich“. Auch wenn der Mann Linkshänder sei: Das bedeute nicht, „die rechte Hand kann gar nichts“.

„Das ist völliger Schwachsinn“

Verteidiger Andreas Trode
über Religion und Linkshändigkeit

Verteidiger Trode regt das auf: Der Gutachter sei seiner Erfahrung nach sehr wohl in der Lage, innerhalb einer Woche ein Gutachten zu erstellen und sich live ins Gericht schalten zu lassen. Der Hinweis auf den Islam „ist völliger Schwachsinn“: Linkshändigkeit sei nicht von der Religion abhängig oder beeinflussbar, sondern genetisch bestimmt. Medizinisch könne eindeutig geklärt werden, ob sein Mandant mit rechts in der Lage sei, einen bestimmten Stich zu machen, einen bestimmten Schnitt zu führen.

In Siegen lernt der Angeklagte seine Lebensgefährtin kennen und lässt sich von ihr aushalten

Bevor die öffentliche Hauptverhandlung für zweieinhalb Wochen unterbrochen wird, verliest die Vorsitzende Richterin, was aus den Akten zum Angeklagten hervorgeht, der weiterhin keine Angaben zu seiner Person machen will. Das deckt sich halbwegs mit dem, was der 24-Jährige selbst dem psychiatrischen Gutachter in der Haft erzählt hat.

Demnach ist er syrischer Kurde, mit sieben Jahren in die Schule gekommen, hat diese mit neun aufgrund von Gewalterfahrungen und weil er Geld verdienen wollte abgebrochen. Er arbeitete demnach als Automechaniker, bis er 2013 allein in die Türkei floh, wo er sich als Hilfsarbeiter durchschlug und keinen Kontakt zur Familie hatte, da er sich kein Handy leisten konnte. Als die Familie dann nachkam, flohen sie 2016 in einem kleinen Boot mit 40 Insassen nach Griechenland und weiter nach Deutschland. Die Fahrt übers Meer habe ihn nachhaltig traumatisiert.

2017 landete der Angeklagte zunächst in Siegburg, mangels Pass ohne Schulbesuch, zog dann nach Siegen, wo er bis Ende 2018 aufs Berufskolleg ging und das dann abbrach, weil es ihm „nicht gefiel“ und er lieber Geld verdienen wollte, um so zu leben wie andere junge Leute. Das Jobcenter schickte ihn zur Handelsschule und zu einer Leiharbeitsfirma, diese Stelle verlor er aber nach Auseinandersetzungen mit seiner Chefin. Wieder schlug er sich als Hilfsarbeiter durch, bis er diesen Job wegen der Corona-Pandemie verlor. Seine Lebensgefährtin, die er in Siegen kennengelernt hatte und die als Produktionshelferin arbeitete, „unterstützte ihn in jeglicher Hinsicht, auch finanziell“.

Angeklagter klaut in City-Galerie Siegen Kopfhörer und schiebt‘s anderem in die Schuhe

Seit 2017 habe der Angeklagte Cannabis konsumiert, da er die „Bilder des Krieges nicht aus dem Kopf bekam“ und sich selbst verletzte, durch die Drogen sei es ihm besser gegangen. Die Behörden wurden auf ihn aufmerksam, als er in der City-Galerie in Siegen Kopfhörer klaute – was er dem Ladendetektiv gegenüber abstritt – und der Polizei falsche Personalien nannte, weshalb ein Unschuldiger vor Gericht gestellt und dann freigesprochen wurde.

Außerdem wurde er mit größeren Mengen Cannabis in Verkaufs-Tütchen erwischt, in seiner Wohnung in Netphen fanden sich 144 weitere solcher Tütchen. Bei einer anderen Gelegenheit wurden knapp 80 Gramm Cannabis sowie Ecstacy-Pillen in seinem Auto gefunden, zusammen mit einem Einhandmesser und einer Softair-Pistole „zur Verteidigung“. Er erhielt eine Verwarnung und vier Wochen Dauerarrest, musste 200 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten und wurde unter Betreuung gestellt. 2020 erhielt der Angeklagte einen Strafbefehl über 250 Euro, weil er Polizisten beleidigt und herabgewürdigt hatte: Neben Kraftausdrücken sagte er zu einem Beamten, dieser wäre ohne die Uniform „nur ein Mädchen“.

+++ Das hatte die NRZ zuletzt berichtet +++

Der Sachverständige hält den Angeklagten für voll schuldfähig. Der Psychiater Dr. Thomas Schlömer hat den 24-Jährigen untersucht, der hat dem Facharzt auch seine Version der Tat geschildert. Das geht aus dem Gutachten hervor, das am Dienstag, 14. Mai, im Landgericht Siegen vorgestellt wird. Der Beschuldigte habe den Mord seinen eigenen Angaben zufolge nicht begangen, sondern der Mann, der in der Nacht auf den 14. August 2023 mit zur niederländischen Grenze nach Elten gefahren war und der im Prozess als Hauptbelastungszeuge aufgetreten ist. Dr. Schlömer gibt in seinem Gutachten außerdem die Schilderungen des Angeklagten zu seiner Biografie und der Beziehung zum Opfer wieder.

Die Biografie: Angeklagter berichtet von schwerer Kindheit in Syrien

Schon in der Kindheit in Syrien sei er früh körperlich misshandelt worden, erzählte der Beschuldigte demnach dem Psychiater. Die Schule habe nur von vier bis sieben Jahren besucht, eine Lehrerin habe ihn dort schwer verprügelt. Schon mit fünf Jahren habe er selbst einen Mitschüler zusammengeschlagen, weil der ihn beleidigt habe.

Danach arbeitete er in einer Autowerkstatt, der Chef habe ihn fortwährend misshandelt. Zeitweise sei er von zu Hause weggelaufen, wenngleich seine Eltern, Bauarbeiter und Hausfrau, ihn wohl nie geschlagen hätten. Zu ihnen habe er bis heute ein gutes Verhältnis. Insgesamt hat er sieben Geschwister. Mit zehn Jahren habe er angefangen zu rauchen, sei Mitglied einer Jugendbande geworden, auch in Jugendhaft gewesen, wo er viele „schlechte Leute“ kennengelernt habe. In seiner Nachbarschaft habe es viel Gewalt gegeben, er habe viele Tote gesehen. Seit der Jugend verletze er sich selbst.

„Er bezeichnete sich als Drogenhändler, so als wäre das eine normale Tätigkeit.“

Dr. Thomas Schlömer
Psychiater

Die Familie sei in Syrien umgezogen, er habe dann in der Ölindustrie gearbeitet. Später in der Türkei habe er Gartenarbeiten verrichtet. In Deutschland, nach Sprachkurs und Berufskolleg, sei er Lagerhelfer gewesen, habe dann entschieden, Drogendealer zu werden. Laut Gutachter, „um reich zu werden“. Mit 19 Jahren habe er mit dem Trinken angefangen, eine Flasche Wodka am Tag, später dann weniger, aber dafür Cannabis, seit Jahren zehn Gramm pro Tag. Ein entsprechendes Langzeitgutachten bestätigt das laut Dr. Schlömer zumindest für die Wochen vor der Tat nicht; ebenso wenig den unregelmäßigeren Konsum von zahlreichen weiteren Drogen, die der Angeklagte in dieser Zeit konsumiert haben will. Cannabis ja, aber deutlich weniger als behauptet.

Die Beziehung: geprägt von immer wieder Streit und Konflikt

Das spätere Opfer habe der Angeklagte kennengelernt, als beide 18 waren; sie hätten nach islamischem Ritus geheiratet. Angeblich habe sie sich prostituiert, um ihren Drogenkonsum zu finanzieren – er habe sie dort herausholen wollen. Sie sei seine erste Freundin und erster sexueller Kontakt gewesen. Wenn er später fremdgegangen sei, was wiederholt vorkam, dann nach einem der vielen Konflikte, von denen auch zahlreiche Zeugen bereits berichtet hatten. Außer Eltern und Lebensgefährtin habe er keine Freunde oder andere Menschen, die ihm nahestünden.

Er liebe die Mutter seiner Kinder immer noch, könne nicht fassen, dass sie tot sei, werfe sich vor, dass er sie im Drogenrausch nicht habe schützen können, habe der Angeklagte dem Psychiater erzählt. Seine beiden Kinder habe er als seine größte Schwäche bezeichnet.

Die Tat: Er sei auf Drogen gewesen – der andere Mann habe zugestochen

Am Tag vorher sei der Angeklagte mit seiner „Zweitfrau“, die bereits als Zeugin ausgesagt hat, in Frankfurt gewesen, dann bei seiner Freundin, die bis zu diesem Tag nichts von dieser Nebenbeziehung gewusst habe. In einem unbeobachteten Moment habe sie in seinem Handy entsprechende Nachrichten gelesen, es sei zum Streit gekommen. Er habe sich entschuldigt, zur Versöhnung einen Kurzurlaub in den Niederlanden angeboten. Da er keinen Führerschein mehr hatte, suchte er einen Fahrer und fand den ihm oberflächlich bekannten Zeugen. Gegen Mitternacht ging es von Siegen los.

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Nach einer Pause habe der Angeklagte LSD und Tabletten genommen, Wahnvorstellungen entwickelt. Der Halt auf dem Feldweg in Elten: Eine Pinkelpause. Danach hätten sie zu dritt eine Zigarette geraucht, als der andere Mann unvermittelt ein Messer gezogen und die Frau getötet habe. Sie habe ihn demnach wohl mit einem Video erpresst, das ihn beim Menschenschmuggel zeige – der Zeuge ist Beschuldigter in einem Verfahren wegen illegaler Einschleusung.

Er selbst, so der Angeklagte zum Gutachter, sei zu berauscht gewesen, um einzugreifen. Mit seiner Kleidung habe er das Blut von der Waffe und den Händen des anderen wischen müssen, behauptete er demnach weiter. Sie seien zurück nach Siegen gefahren, hätten die Kinder bei den Großeltern abgesetzt, Messer und blutige Kleidung entsorgt, das Mietauto gereinigt und zurückgegeben. Danach sei er ziellos durch Siegen geirrt und irgendwann mit dem Taxi zu seinen Eltern gefahren, wo er umgehend von der Polizei festgenommen wurde.

Er sei zu Unrecht im Gefängnis, habe der Angeklagte beteuert: Er könne die Langeweile kaum ertragen, leide unter der Haft und unter Alpträumen durch die Tat, habe Angst, seine Kinder nicht wiederzusehen. „Ich bin Drogendealer und kein Mörder!“ Laut Spuren und Zeugenaussagen habe der Angeklagte die Frau zu Oralsex mit dem Zeugen aufgefordert und sie dann hinterrücks mit einem Messer getötet.

Die Persönlichkeit: Von bedingungsloser Liebe blitzschnell zu Hass und Gewalt

Emotional instabil, Borderline-Persönlichkeitsstörung, fasst der Facharzt zusammen. Der Angeklagte sei überdurchschnittlich reizbar und labil, passend zu dieser Diagnose. Auch bei ihm gebe es wie bei jedem Menschen eine Schwelle zur Gewalt – aber sie sei sehr viel niedriger als im Durchschnitt. Er sei nachtragend und insbesondere wenn er kritisiert oder beleidigt werde, schnell sehr aggressiv.

Ansicht des Justizgebäudes an der Berliner Straße in Siegen.
Ansicht des Justizgebäudes an der Berliner Straße in Siegen. © WP | Hendrik Schulz

Er habe Probleme mit dem Alleinsein, könne Trennungen nur schwer verkraften. Der Gutachter stellt narzisstische Züge beim Angeklagten fest: Es sei ihm wichtig, dass andere Menschen ihn beachten und bewundern, sei der Ansicht, dass er umfangreichen Respekt anderer verdient habe, dass gesellschaftliche Regeln für ihn nicht gelten. „Er bezeichnete sich als Drogenhändler, so als wäre das eine normale Tätigkeit“, sagt Dr. Schlömer.

Gleichzeitig, auch das passend zur Borderline-Diagnose, habe der Beschuldigte auch fürsorgliche Persönlichkeitsanteile. Dies schwanke dabei sehr stark – von bedingungsloser Liebe zu Hass und Gewalt innerhalb kurzer Zeit. Anders als bei durchschnittlichen Menschen stehe ihm, etwa im Streit, der liebevolle Aspekt seiner Persönlichkeit nicht zur Verfügung, der beispielsweise in einem Ehestreit nie verschwinde. Er sei dann ganz von Hass erfüllt. Und Konflikte, so Schlömer, habe es in dieser „explosiven Partnerschaft“ wohl viel gegeben. Womöglich habe auch die Getötete entsprechende Persönlichkeitstendenzen gehabt.

Die Persönlichkeitsstörung ist nach Einschätzung des Sachverständigen sowohl für die Tat als auch die vielen Konflikte und das Scheitern in wichtigen Lebensbereichen des Angeklagten verantwortlich. Der Drogenmissbrauch sei ein Teilaspekt davon, Cannabis wirke aber eher beruhigend, als das aufbrausende Wesen des Beschuldigten zu verstärken.