Haldern. Seit 38 Jahren macht ein Popfestival Haldern einmal im Jahr zum Mekka der Musikliebhaber. Auch in diesem Jahr. Trotz und mit Corona.

Die größte Krise für Haldern Pop, so hat es Festivalmacher Stefan Reichmann mal beschrieben, war auch die des größten Erfolgs: Als Bob Geldof kam, als man ausverkauft war, als Sponsoren und Geschäftemacher anklopften und man hätte wachsen können. Zu einer poppigeren Variante des Hardrock-Festivals Wacken vielleicht. Aber Stefan Reichmann hatte eher vor Augen, was im münsterländischen Schüttorf passiert war, ein Festival, das fast parallel zum Haldern Pop wuchs, zur Supernova aufblähte und dann verglühte.

Schüttorf kollabierte am Erfolg, Haldern wandelte sich: Das Popfestival, das an diesem Wochenende zum 38. Mal in dem 5000 Menschen zählenden Dorf stattfindet, wurde zu einem Festival mit politischer Botschaft: Dass Landleben nicht provinziell sein muss, dass man auch einen solchen Ort auf die musikalische Weltkarte heben kann. Indem man anbietet, was auf dem Land leichter zu haben ist: Raum und Zeit. Das Festival war Kurort und Kraftquelle: Für die Musiker, die einander zuhörten, für die Zuhörer, die gleichsam Jahr für Jahr eine immer größere Auswahl musikalischer Kostbarkeiten aller Genres aus aller Welt aufgetischt bekamen und für die Entwicklung des Dorfes.

Quer durch den Obstgarten: DJane Tereza gehört mit zum Angebot des 38. Haldern Pop Festivals.
Quer durch den Obstgarten: DJane Tereza gehört mit zum Angebot des 38. Haldern Pop Festivals. © Haldern Pop | Christoph Buckstegen

Das jährliche Festival nährt eine Agentur und ein Plattenlabel, ermöglichte die Wiederbelebung einer alten Dorfkneipe nach jahrelangem Lehrstand als Pop Bar, schafft einen Fixpunkt im Jahreskalender, an denen sich jene, die fortgingen mit jenen treffen, die immer noch da sind. Und dazu viele Gäste. Bis zu 7000 Musikfans kamen. Bis 2019. 2020 gab es kein Festival, nur ein Streamingkonzert. Jetzt, mit der 38. Auflage zeigt Haldern: Das Festival lebt! Und: Es ist möglich, die Magie eines solchen Festivals auch unter Corona-Bedingungen erlebbar und spürbar zu machen. Bedeutet aber einen riesigen Aufwand. Zunächst: Jeder, der teilnimmt, ist geimpft, genesen, getestet. Und darf wählen: Wandern, radeln oder auf den Marktplatz oder in die Kirche.

Während die Karten für die Kirchenkonzerte einzeln verkauft werden und sich hundert Menschen auf festgelegten Sitzplätzen auf den Bierbänken des Marktplatzes niederlassen, pilgern die Fuß- und Wandergruppen immer zu maximal zehn Leuten los. Mit Tourguide und zwei Minuten Abstand. Getränke kommen an den Platz, per App geordert, in der auch jeder sorgfältig sich an jedem Konzertort ein- und wieder auscheckt.

So augenfällig wie hier auf der Bühne im Wald mit Fovos Alif war es selten: Musik ist wie ein Lagerfeuer..
So augenfällig wie hier auf der Bühne im Wald mit Fovos Alif war es selten: Musik ist wie ein Lagerfeuer.. © Herm | Foto

Und die Konzertorte – sie sind zauberhaft: Bands spielen auf einer Lichtung im Wald, auf den Obstwiesen eines Bauernhofes legt DJane Tereza auf. Im nahen Kloster Aspel singt im Innenhof der Chor Cantus Domus, der Sinnesgarten einer Behindertenwerkstatt wird ebenfalls zur Bühne. Ein immenser Aufwand für eine vergleichsweise kleine Zahl von Zuhörerinnen und Zuhörern.

Aber wann hat man je im Kreis auf Bierbänken um eine 360-Grad-Bühne herum gesessen, auf der zwei junge Kölner Musiker als Duo Fovos Alif ihr allererstes und sehr gelungenes Premierenkonzert geben? Ein Lagerfeuer zum Lauschen. Und man kann das Glück der Österreicher von Oh Alien fast mit Händen greifen, als die Sängerin am Ende des Konzerts ruft: „Hey, das war unser erstes Festival.“ Und etwas leiser anfügt: „Und unser erstes Live-Konzert überhaupt.“ Und wie eine Schülerband können sie als Zugabe nur zwei Stücke noch einmal spielen und es gibt niemanden, den das stören würde.

Ein anderes Festival: Menü statt Büfett

Es ist ein anderes Festival, natürlich. Dort, wo sonst hunderte Menschen immer wieder zwischen großer Bühne, Spiegelzelt, Pop Bar und Kirche pendeln und sich wie am Büfett über drei Tage ein pralles musikalisches Mahl in die Gehörgänge schaufeln können, gibt es jetzt ein gesetztes Menü: Feste Orte, feste Reihenfolge. Und damit vielleicht mehr Konzentration und manchmal mehr Konzentration mit Musikern, denen man sonst vielleicht nicht so lange zuhören würde.

Doch der Appetit ist da: Die Menschen sind ausgehungert, vor der Bühne genauso wie die auf der Bühne. An zwei Abenden, einmal auf einer Wiese am Waldesrand und auf der Bühne am Marktplatz gibt es eine Tournee durch den 80er-Jahre Pop, mit französischem Esprit gewürzt und serviert von Catastrophe, die ihrem Namen so gar keine Ehre machen wollen.

Die Band heißt Catastrophe – davon aber kann keine Rede sein

Die andere Katastrophe namens Corona ist da weit, weit weg. Bis die Menschen plötzlich den Atem anhalten, weil Musiker von der Bühne springen, in die Menge, einer wagt gar einen Tanz mit einem Fan. Eine Grenzüberschreitung, zweifellos – aber war das Popmusik nicht schon immer, wenn sie gut war? Und: Warum hat man beinahe Tränen in den Augen in einem solchen Moment? Weil man wieder merkt, was alles noch fehlt und was wir alles vermissen seit anderthalb Jahren.

An diesen Abenden in Haldern ist er zurück, der Klang von Livemusik. Nein, noch nicht aus aller Welt, aber immerhin aus einigen Ländern. Der Sauerteig Haldern Pop, aus dem die Festivalmacher Jahr für Jahr etwas Neues backten, er gärt noch. Und vielleicht sammelt er durch die Konzentration auf einige wenige kleine Events sogar neue Kraft, aus der dann im kommenden Jahr wieder mehr wachsen kann. Zu groß wird Haldern schon nicht werden, wichtig ist nur, dass es weiterlebt – das Festival und das Dorf.