Duisburg. Sie waren Jugendfreunde, überlebten den Holocaust und wurden ein Ehepaar: Edith Herz und Horst Lucas führten ihre Lebenswege in Duisburg wieder zusammen.

Im Dezember 1945 kam die junge Jüdin Edith Herz zusammen mit ihrer Mutter Flora Herz nach dreieinhalb entsetzlichen Jahren mit einem Transport für Vertriebene zurück nach Duisburg. Hier tat die damals 19-Jährige als Erstes zwei Dinge: Sie ging zum Rathaus und ließ sich von einem sehr netten, frisch eingesetzten Bürgermeister mit Namen Schmitz erklären, wie viele Duisburger Juden und Jüdinnen noch zurückgekehrt waren.

Schonend brachte er ihr bei, dass von den 809 jüdischen Duisburgern, die 1938 in der Stadt gewohnt hatten, gerade mal sechs den Holocaust überlebt hatten. Einen davon, ihren Jugendfreund Horst Lucas, der ihr vor Jahren das Tanzen beigebracht hatte, wollte Edith Herz gerne wiedersehen. Sie hängte ihm einen Zettel an seine Zimmertür, darauf stand: „Wir sind zurück von unserer Weltreise“.

Duisburgerin über Holocaust: „Den Gestank nach Tod und Verderben habe ich heute noch in der Nase“

Ihre „Weltreise“ ins Vernichtungslager hatte in ihrer Geburtsstadt Worms begonnen, wo ihre Eltern Flora und Albert Herz einen großen Eisenwarenhandel betrieben. Am 10. November 1938 kam Albert Herz nach Hause und sagte seinen Töchtern Edith (12) und Suse (8): „Heute braucht ihr nicht zur Schule gehen, in der Nacht ist die Synagoge abgebrannt.“ Es sollte noch lange dauern, bis die Mädchen das volle Ausmaß dessen begriffen, was in Nazi-Deutschland vor sich ging. Die Wohnung der Familie Herz wurde verwüstet, der Vater verhaftet und nach Buchenwald deportiert. Als der hochdekorierte Veteran des ersten Weltkriegs von dort zurückkehrte, sprach er nicht über seine Erlebnisse. Aber von da an wusste er, dass seine Familie in Lebensgefahr schwebte.

Visa für eine Ausreise zu bekommen erwies sich als unmöglich, aber wenigstens für die jüngste Tochter Suse gab es einen Platz in einem Kindertransport ins sichere England. Der Rest der Familie wurde von einem jungen SS-Mann hastig gewarnt, sofort zu fliehen. Er war der Sohn ihrer Gemüsehändlerin. Sie gingen daraufhin 1939 nach Duisburg, wo die Tante von Flora Herz und deren Mann ein Kaufhaus besaßen. Flora half für geringen Lohn im Geschäft, Albert arbeitet schwer in einer Leinenfabrik. Edith fuhr mit vier anderen jüdischen Jugendlichen jeden Tag mit dem Zug nach Köln, wo es noch eine jüdische Schule gab.

Edith Herz und ihre Mutter entkamen der Hölle von Auschwitz
Edith Herz und ihre Mutter entkamen der Hölle von Auschwitz © dpa | Str

1941 begannen die Transporte in den Osten. Edith wäre gerne mitgefahren, viele ihrer Freunde waren schon fort. Sie konnte nicht verstehen, warum ihr Vater um keinen Preis in einen der Züge steigen wollte. „So naiv war ich“, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Als die jüdische Schule in Köln wegen Schülermangel schloss, half sie dem Duisburger Rabbiner Dr. Neumark und seiner Schwester im Haushalt. Im Juli 1942, da lebten sie schon eingepfercht im sogenannten „Judenhaus“ an der Meidericher Baustraße, wurden sie aufgefordert, sich am Bahnhof einzufinden. Mit dem letzten Transport verließen sie Duisburg, auch der Rabbiner und seine Schwester waren mit in dem Zug. Die letzte Nacht vor der Weiterfahrt ins Ungewisse verbrachte die Familie Herz aneinander gelehnt in einem leeren Schlachthofgebäude in Düsseldorf. „Den Gestank nach Tod und Verderben habe ich heute noch in der Nase“, schreibt Edith Herz.

Mutter und Tochter überlebten Auschwitz

Im überfüllten Lager Theresienstadt bekam Albert Herz eine Blaseninfektion und starb an der unbehandelten Erkrankung. Der Rabbiner Neumark, der nur Wochen später selber sterben sollte, lief neben seinem Totenkarren her und betete das traditionelle jüdische Totengebet für ihn. Für seine Frau und Tochter ging es weiter nach Auschwitz. „Es tat nicht besonders weh, die Häftlingsnummer tätowiert zu bekommen, nur ein kleiner Picks“, erinnert sich Edith, aber ihre Mutter war böse mit ihr, weil sie einer alten Dame den Vortritt gelassen hatte. „Jetzt sterben wir nicht zusammen, wenn sie nach den Nummern gehen“, sagte sie. Sie standen nackt vor dem berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele und überstanden die Selektion.

Sie schaufelten Gräben in den Arbeitslagern um Stutthoff und liefen im Januar 1945 auf einem Todesmarsch durch die vereiste Landschaft, bis sie in einem Bauernhaus halbtot zusammenbrachen. Am nächsten Morgen waren ihre Bewacher vor den näher rückenden Russen geflohen.

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Es war schon Dezember als sie sich mit vielen Zwischenstationen in hastig improvisierten Unterkünften bis nach Duisburg durchgeschlagen hatten.

Dort beschaffte der freundliche Bürgermeister Schmitz den Erschöpften ein Krankenzimmer im Marienhospital. Sie bekamen Untersuchungen von richtigen Ärzten, warme Federbetten und die Nonnen brachten ihnen am Nikolaustag eine Tüte voll mit Süßigkeiten. Erst da, zurück in Duisburg, begann Edith Herz zu verstehen, dass sie und ihre Mutter wirklich überlebt hatten.

Der Historiker Robin Richterich hat im Kultur- und Stadthistorischen Museum über die Geschichte der beiden beiden Duisburger gesprochen.
Der Historiker Robin Richterich hat im Kultur- und Stadthistorischen Museum über die Geschichte der beiden beiden Duisburger gesprochen. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Im Jahr 1947 verließen Flora und Edith Herz gemeinsam mit Horst Lucas Deutschland und reisten nach Amerika. Auch Lucas hatte im Holocaust seine ganze Familie verloren. Ihre Stolpersteine liegen heute vor dem Haus in der Mainstraße 51. Im Gepäck hatten sie den Jad, den silbernen Lesestab aus der zerstörten Duisburger Synagoge, den ein Augenzeuge aufbewahrt und den Überlebenden 1945 übergeben hatte. Lucas und Herz heirateten und betrieben in Brooklyn eine chemische Reinigung. Edith Lucas starb am 7. Oktober 2023, sie wurde 97 Jahre alt.