Düsseldorf. Bei einer Firmenfeier auf der Urlaubsinsel stürzt ein Immobilienmakler auf den Kopf. Anklage sieht Angreifer unter betrunkenen Kollegen.
Es sollte eine besondere Unternehmensfeier werden, nettes Hotel im Süden Mallorcas, die ganze Belegschaft eines Düsseldorfer Maklerbüros an Bord. Doch statt gelungenen Teambuildings fiel das Team auseinander: Am Ende eines alkoholreichen Abends soll einer der Teilnehmer einen anderen im Streit geschubst haben, so stark, dass der Mann mit dem Kopf „ungebremst“ auf den Asphalt fiel. Seither ist der 44-Jährige zu 70 Prozent behindert. Sechs Jahre später sehen sich die Beteiligten vor Gericht wieder, als Angeklagter, Opfer, Zeugen.
Feucht soll das Firmenfest auf der spanischen Urlaubsinsel gewesen sein, aber weniger -fröhlich. Die Stimmung war eher „gereizt“, erinnert sich das spätere Opfer, angespannt: „Wir haben so getan, als würden wir feiern.“ Letztlich sei ja jeder Immobilienmakler des anderen Konkurrenten gewesen. Getrunken aber haben sie offenbar viel zusammen, schon den ganzen Tag. Nachmittags Caipirinhas, zum Abendessen Weißwein, ein bis zwei Flaschen allein für den Angeklagten, das weiß er noch, plus „hochprozentige Absacker“. Danach ging es in einer Bar weiter: Auf vier bis fünf Cuba Libre kommt der 48-Jährige und sieben bis acht „Shots“, wahrscheinlich Tequila. Im Blut ihres Patienten wiederum fanden die Ärzte 2,3 Promille, dazu Spuren von Kokain und Cannabis.
Alkohol und Drogen: Angeklagter und Zeuge können sich nicht erinnern
Ein Grund, warum sich nach jenem Abend im September 2018 niemand, auch der Angeklagte nicht, „einen Reim darauf machen kann, warum er gestürzt war“. Von Streitigkeiten spricht seine Anwältin, die seine Einlassung vorlesen muss, ihr Mandant sei zu „aufgeregt“. Tatsächlich bebt der Mann am ganzen Körper, versucht, sich krampfhaft an seinen eigenen Händen festzuhalten, irgendwann bricht er in Tränen aus. Es habe „irgendwie Tumult“ gegeben, „mehr weiß ich aus eigener Erinnerung nicht mehr“.
Nach Rekonstruktion der Ermittler ging dieser „Tumult“ tatsächlich so: Im Taxi zurück ins Hotel soll das spätere Opfer gegen zwei Auszubildenden sexuell übergriffig geworden sein. Es kam zum Streit, zu Geschubse, ein Feuerzeug flog, immer wieder soll der nun Beschuldigte den Kollegen angegangen sein. Andere versuchten zu schlichten, die Situation soll unübersichtlich gewesen sein. Bis auf der Straße vor der Unterkunft ein heftiger Stoß den damals 38-Jährigen zu Fall brachte. Der trug schwere Kopfverletzungen davon, unter anderem Hirnblutungen und Schädelfrakturen.
Tatsächlich hat es später eine Anklage wegen sexueller Belästigung gegen das Opfer gegeben; die Staatsanwaltschaft nahm sie zurück. Offizielle Begründung: Verhandlungsunfähigkeit des Beschuldigten. Ob der harte Sturz auf der Straße dazu geführt hat, ist bislang unklar. Der Schwerverletzte, von seinen Kollegen ins Hotel getragen, soll dort mehrfach von einem Sofa gefallen sein, weil er sich selbst nicht halten konnte. Vor dem Düsseldorfer Landgericht befasst sich eine Gutachterin erneut mit dieser Frage.
Wer aber gestoßen hat, lässt sich auf Videos offenbar nicht genau erkennen. Auf den grobkörnigen Aufnahmen, die am zweiten Prozesstag gezeigt werden sollen, sei es dunkel, die handelnden Personen seien auf Schulterhöhe abgeschnitten, heißt es von Beteiligten. Zeugenaussagen und ein gewisses Ausschlussprinzip sollen aber auf den Angeklagten verweisen. Er selbst sagt: „Die Person könnte ich gewesen sein.“ Auch an seine Wut kann er sich erinnern: Die Auszubildenden seien im Alter seiner Töchter gewesen. Ob er indes den Kollegen „überhaupt berührt“ habe: Fragezeichen beim Angeklagten, Widerspruch bei seiner Verteidigerin. „Die Ursache für den Sturz wurde nicht durch meinen Mandanten gesetzt.“
Drei Wochen im Koma, Monate in Kliniken
Drei Wochen lag der damals 38-Jährige im Koma, nach fünf wurde er in eine Klinik nach Köln verlegt. Daran hat er die ersten Erinnerungen, das Beatmungsgerät, die unvermittelten Stürze, der Hörverlust. „Ich fühle mich“, der Zeuge muss lange nach Worten suchen, noch länger als sonst, „wie ein behinderter Krüppel.“ Anfangs hätten die Ärzte ihm gesagt, innerhalb von drei Jahren könne sich alles verbessern, „aber nun ist es schon sechs Jahre her“. Die Panikattacken sind geblieben, die Schlaflosigkeit, die mangelnde Merkfähigkeit, die fehlende Belastbarkeit, das ständige Stolpern.
Wie sein Alltag aussieht, will die Richterin wissen: „An schlechten Tagen stehe ich nicht auf.“ Der Mann, dem eine Sozialpädagogin beisteht, die ihm auch in die Jacke helfen muss, sucht immer noch einen Weg zurück in den Beruf, in irgendeinen. Er hat eine Haushaltshilfe, Pflegegrad 2, die Mutter kommt fast jeden Tag. Kürzlich hat er einen Betreuer bestellt, weil ihm alles über den verletzten Kopf wächst. Der einstige Gutverdiener rutschte in die Privatinsolvenz, der frühere Tennisprofi kann kaum noch laufen.
Auch der mögliche Täter ist seinen Job los. Nach einer ersten Urteilsverkündung am Amtsgericht entdeckte seine neue Chefin sein Bild in der Presse wieder – Kündigung. In erster Instanz war der 48-Jährige zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden, in der Berufung wollen seine Anwälte Freispruch. Der Staatsanwalt hingegen will seine frühere Forderung bestätigt sehen: eineinhalb Jahre Haft auf Bewährung. Am Mittwoch sitzen sich die beiden Männer schräg gegenüber, fast ohne sich anzusehen. Nur selten wirft der Angeklagte einen verstohlenen Blick auf den Zeugen, schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf.
Schwerverletzter blieb allein in der Hotellobby zurück
Auf der Rückreise und später in seiner Firma sei über „den Vorfall“ geschwiegen worden – bis es erste Vernehmungen gab. Die Kollegen waren am nächsten Tag abgereist, erst die Schwester des Opfers begann auf Mallorca zu recherchieren, warum ihr Bruder überhaupt im Krankenhaus lag. Die Kamerabilder aus der Hotellobby zeigen: Die Mitarbeiter des Maklerbüros zogen sich nach und nach zurück, der Schwerverletzte blieb auf dem Sofa allein. Nach der herbeigerufenen Polizei merkten erst die Sanitäter, wie ernst es um den Gast stand. Eine Operation rettete ihm das Leben.
Dem Opfer hat es wehgetan, dass die Zeugen sich auf ihre Filmrisse beriefen, behaupteten, „nichts gesehen“ zu haben. „Ich bin enttäuscht, dass sie gelogen haben. Ich dachte, wir wären Freunde“, sagt der Mann über seinen früheren Chef, „ich dachte, wir wären ein Team.“ Einer habe ihn vertröstet: „Wir sprechen darüber, wenn Du wieder gesund bist.“ Nur, er werde nicht wieder gesund. Nicht wieder arbeiten können, keine Freunde mehr finden, vielleicht keine Beziehung eingehen können. „Das ist alles durch diese Tat passiert.“
Für den Prozess vor der 22. Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts sind zunächst weitere sechs Verhandlungstage terminiert.