Düsseldorf. Inga Schneider aus Düsseldorf hat seit dem Beginn des Ukraine-Krieges schon neun Menschen bei sich aufgenommen. Weitere Familien sind unterwegs.
Es gibt eine berühmte sowjetische Ballade aus dem Zweiten Weltkrieg, an die sich Inga Schneider am Morgen des 24. Februar erinnert, als die Kriegsnachricht aus der Ukraine eintrifft. Sie beginnt mit den Zeilen „Am 22. Juni um 4 Uhr morgens bombardierten sie Kiew / Sie sagten uns, der Krieg habe begonnen.” Das in der Ukraine und in Russland gleichermaßen bekannte Volkslied beweint die deutsche Bombardierung Kiews im Jahr 1941. „Und nun ist es Russland, das Kiew bombardiert“, sagt Inga Schneider fassungslos.
Ihre Gedanken sind seitdem bei all jenen, die sie kennt – in Russland, in der Ukraine, in Moldawien. Sie treiben die Düsseldorferin an, zu helfen und Menschen zu retten, wo sie nur kann. Sie hat Aljona, ihren Sohn Anton (11) und Oma Valentina (70) aus Kiew in Empfang genommen und direkt ganz viel Suppe für sie gekocht. Auch die allein reisende Eugenia und drei weitere Frauen mit einem einjährigen Kind hat sie untergebracht.
Der Opa kämpfte gegen Adolf Hitler
Zuletzt ist Anastasia (25) aus Odessa bei ihr angekommen, ganz auf sich gestellt, ohne Eltern, Schwester, Bruder, Oma. „Und eine Familie wird gerade noch von einem Freund an der polnischen Grenze abgeholt“, erzählt die 48-Jährige. Auf eine Nachricht einer Familie aus Odessa, die in der moldawischen Hauptstadt Chișinău sitzen und noch überlegen, ob sie wirklich fliehen wollen, wartet sie auch noch.
Inga Schneiders eigenes Leben ist eng verwoben mit der Zeitgeschichte. Geboren in Moldawien, genau dort, wo sich 1992 im Osten das Gebiet Transnistrien vom Rest der Republik Moldau abspaltet. Ihr Uropa war Ukrainer, ihre Uroma Russin, eine Oma wohnte in Sibirien und ihr Opa hat 1945 in Berlin gegen Adolf Hitler gekämpft.
Inga Schneider: „Wir weinen die ganze Zeit“
In Sankt Petersburg studiert Inga Schneider Sozialpädagogik, behält aber ihren moldawischen Pass – bis heute. Als sie 1996 nach Deutschland zieht, wird das Studium nicht anerkannt. „Da habe ich einfach noch mal studiert.“ Heute arbeitet sie bei der Diakonie im betreuten Wohnen und hat sich seit dem 24. Februar schon manchen Spruch eines russischen Klienten anhören müssen. „Einer hat gesagt: Die Ukraine hat das verdient“, erinnert sie sich. „Aber ich will mit ihnen nicht diskutieren. Kolleginnen von der Caritas erzählen, es gebe Flüchtlinge, die nicht von Russen betreut werden wollen.“
Für sie, die sich als Russin fühlt, ist der Krieg ein Drama, eine menschliche Katastrophe. Schon viele Abende hat sie am Küchentisch gesessen und mit ihren geflüchteten Freunden und Verwandten geredet. „Das ist was anderes, als es im Fernsehen zu sehen“, sagt sie. „Wir weinen die ganze Zeit.“
Mit der Schwester (14) im Keller versteckt
Auch jetzt stehen wieder Kaffeetassen auf dem Tisch, dazu Bahlsen-Kekse und Lindor-Schokokugeln. Inga Schneiders Kinder Michelle (20) und Damian (9) haben Spaß an Anastasias kleiner Hündin Lola, die sich im Kreis drehen und auf zwei Beinen tanzen kann, wenn Anastasia sie mit Leckerlis motiviert. Anastasia erzählt, wie sie sich am 24. Februar nach den ersten Luftangriffen mit ihrer 14-jährigen Schwester im Keller des Hauses in Odessa versteckte. Wie ihr Papa beide dann mit dem Auto zur Oma nach Bilhorod-Dnistrowsky, außerhalb der Großstadt, brachte. „Dort konnten wir regelmäßig Sirenen und Explosionen hören, aber es war weiter weg“, erinnert sich die 25-Jährige.
Kurz darauf kam der Tag der Trennung. Weil der Rest der Familie bleiben wollte, reiste Anastasia allein nach Moldawien, von dort nach Prag und Berlin, die kleine Lola, ein Pomeran Spitz, mit im Gepäck. Aus Berlin rief sie ihre Tante Inga an, fuhr mit dem Zug weiter nach Köln. „Anastasia ist die Nichte meines Halbbruders“, erklärt Inga Schneider. Über Facebook und WhatsApp erreichen sie immer wieder neue Anfragen. „Meine Freunde in der Ukraine, mit denen ich immer auf Russisch geschrieben habe, antworten jetzt auf Ukrainisch.“ Der Krieg hat den Patriotismus gestärkt.
Die Haustiere geben den Menschen Halt
In Düsseldorf hat Inga Schneider Glück, dass sie Platz für die Geflüchteten hat. Entweder in der Einliegerwohnung ihres kleinen, historischen Häuschens in Eller oder in einem zweiten Haus, das ihr gehört. „Oder besser: der Bank“, sagt sie und lächelt. Die 48-Jährige begleitet ihre Schützlinge zum Amt, besorgt fürs Handy die kostenlosen Sim-Karten, die es gibt. Der elfjährige Anton aus Kiew wurde bei „Kids on Stage“, dem Düsseldorfer Kinder- und Jugendshowchor, in dem Damian singt, mit Geschenken überhäuft, außerdem darf er jetzt kostenlos zu Damians Fußballschule mitkommen. „Ich glaube, es ist gut, wenn Anton mitgeht“, sagt Damian. „Dann ist er abgelenkt und denkt nicht an den Krieg.“ Er hofft, dass Anton auch bald zur Schule gehen kann.
Die Ukrainerin Aljona hat der Düsseldorferin erzählt, dass viele Flüchtlinge ihre Haustiere mitgebracht haben, diese in den Unterkünften der Stadt aber nicht überall erlaubt sind. „Es gibt Männer, die deswegen mit den Hunden nachts im Auto schlafen, während die Frau und die Kinder im Hotel sind“, sagt Inga Schneider. Ein Blick auf Anastasia und Lola zeigt, wie viel Halt ein vertrautes Tier Menschen in dieser Ausnahmesituation geben kann. „Klar, es ist schwer“, sagt Anastasia auf Nachfrage. „Aber ich telefoniere jeden Tag mit meiner Oma und meiner Familie. Und ich werde auf jeden Fall zurückgehen, wenn es sicher ist.“
„Man kannte den Krieg doch nur aus Filmen.“
Im Sommer war Inga Schneider zuletzt in Moldawien und im November bei ihrer Tante in Moskau. Im September ist ihre Familie in der Republik Moldau auf einer Hochzeit eingeladen, wer weiß, ob es klappt. Die Schneiders reisen gern, alle lieben den Haustausch mit anderen Menschen in fremden Ländern. „Wir waren schon in Thailand, Spanien, Italien, Israel und Ägypten. Die Leute sind überall so nett, man tauscht ein Stück vom Leben!“, berichtet die Mutter. „Ich versuche auch meinen Kindern beizubringen, dass die Welt voller netter Menschen ist.“
Am Ende schiebt Inga Schneider noch nachdenklich ein paar Sätze hinterher: „Man kannte Krieg doch nur aus Filmen. Und jetzt sehe ich so viel Leid und so viele Kinder mit Kuscheltieren am Bahnhof. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so viele Leute vom Zug abhole. Schlimm!“