An Rhein und Ruhr. Schwächt sich die Pandemie ab oder bleibt die Impfpflicht aus, geht den Corona-Gegnern die Luft aus, sagt Forscher Stefan Marschall im Interview.
Gegner von Corona-Maßnahmen gehen seit Wochen, oft unangemeldet in Form von „Spaziergängen“, auf die Straße. Dabei geht es oftmals nicht allein darum, Unmut gegen die Corona-Regeln kundzutun. Gleichzeitig gibt es Gegenproteste. Im Gespräch mit Christopher Damm ordnet Politikwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Marschall von der Heinrich-Heine-Uni Düsseldorf die Situation ein.
Herr Professor Marschall, zuletzt kam es auch in NRW immer häufiger zu sogenannten Corona-Spaziergängen. Seit einigen Wochen finden beispielsweise in Düsseldorf jeden Samstag Protestmärsche mit einigen Tausend Teilnehmenden statt. Kann man in diesem Zusammenhang davon sprechen, dass es sich bei den „Spaziergängen“ um eine große Bewegung handelt?
Stefan Marschall Eine soziale Bewegung im wissenschaftlichen Sinne setzt voraus, dass es ein koordinierendes Zentrum gibt. Die örtlichen Proteste und Spaziergänge zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie durch dezentrale Akteure gesteuert werden. Von Oben betrachtet, scheinen die Spaziergänge eine zentrale Bewegung zu sein, aber es fehlen die Instanzen, die das Ganze organisieren und steuern. Anders ist das beispielsweise bei Fridays für Future. Dort gibt es zwar auch örtliche, dezentrale Veranstaltungen, die aber zugleich auch zentral koordiniert und gesteuert werden, und alle Teilnehmenden verfolgen dabei die gleichen Ziele.
Das heißt, auf den Spaziergängen verfolgen die Teilnehmenden nicht die gleichen Ziele?
Zunächst muss man festhalten, dass es sich bei den Teilnehmenden von Corona-Protesten um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Von Esoterikern, Anhängern von Verschwörungstheorien, Corona-Leugnern, Impfskeptikern und bis hin zu Rechtsextremisten laufen da viele mit. Das ergibt ein ziemlich buntes Bild. Es gibt auch Menschen, die teilnehmen, weil sie die Corona-Maßnahmen nicht mehr ertragen oder unter diesen leiden. Die Ideologie und die Motivation ist nicht bei jedem Teilnehmenden die Gleiche.
Die Sozialen Medien rücken bei Aufrufen zur Teilnahme an Corona-Protesten immer mehr in den Vordergrund. Findet aktuell eine Radikalisierung von Querdenkern im Internet statt?
Die Sozialen Medien haben eine ganz entscheidende Rolle für die politische Beteiligung eingenommen. Menschen sind viel leichter und viel schneller zu erreichen, zu mobilisieren und zu manipulieren. Deswegen wirken sich die Sozialen Medien auch auf die Radikalisierung einiger Menschen aus. Um Menschen früher zu motivieren, gab es beispielsweise Telefonketten. Da war der Aufwand weitaus größer. Dienste wie Facebook, Telegram oder Twitter sind mittlerweile ein entscheidender Faktor zur schnellen und unaufwendigen Koordination und Vernetzung von Menschen und Protesten. Das gilt aber sowohl für Corona- als auf der anderen Seite auch für Gegen- und Klimaproteste.
Insbesondere über den Messenger-Dienst Telegram äußern Rechte gegenüber Politikern und Journalisten Gewalt- und Mordphantasien, bei den Spaziergängen und Corona-Demos sind immer mehr Rechtsextremisten anzutreffen. Findet eine rechte Unterwanderung statt?
Man kann auf jeden Fall feststellen, dass rechte Gruppen versuchen, Nutzen und Profit aus der Corona-Krise und dem Protest zu ziehen. Inwieweit diese Proteste komplett unterwandert sind, ist aktuell schwer einzuschätzen. Was man bisher sagen kann, ist, dass sich in den Protesten eine Systemopposition mit antidemokratischen Tendenzen entwickelt hat, die durch Rechte weiter befeuert wird.
Zuletzt hörte oder las man in den Sozialen Medien von Teilnehmern, die weder Rechte bei den Protestmärschen gesehen hätten, noch wüssten sie, woran man sie erkennen könnte. Daher die Frage: Wie können Rechte überhaupt erkannt werden?
Eine allgemeine Anleitung dafür gibt es nicht. Die Ideologie sieht man einen Menschen in den meisten Fällen ja nicht direkt an, vor allem wenn man sich gar nicht mit der rechten Szene auskennt. Deswegen ist es wichtig, darauf zu achten, welche Plakate und Flaggen von Teilnehmenden hochgehalten werden. Die Reichskriegsflagge ist dabei beispielsweise ein Indiz für eine klare rechtsradikale Gesinnung.
Lassen sich die Menschen, sowohl im Osten als auch hier in der Region, bewusst von Rechten vereinnahmen, damit die Proteste stärker werden?
Pauschal lässt sich das so nicht sagen. Wer sich vereinnahmen lässt ist, gehört wahrscheinlich eh schon halb zur Szene, oder ist rechtsoffen. Für rechte Gruppen sind die Corona-Protestmärsche ein Rekrutierungsfeld. Dennoch gibt es zahlreiche Menschen, die an diesen Spaziergängen teilnehmen und sich trotzdem von Rechtsextremisten abgrenzen. Es ist wie gesagt, eine sehr heterogene Gruppe, die da mitläuft, deswegen ist es schwierig, jeden Teilnehmenden als Rechten zu bezeichnen. Das Demonstrationsrecht ist ein sehr hohes, demokratisches Gut und der Protest gegen die Maßnahmen ist ja auch durchaus legitim.
Begriffe wie „Spaziergänge“, „bürgerlich“ und „Querdenker“ sind seit der Corona-Krise und davor durch die Flüchtlingskrise häufig negativ konnotiert. Wie schaffen es die Rechten, dass sie dieses Framing betreiben können?
Es gibt da durchaus eine gewisse Anleihe, eine Referenz an Pegida und die Montagsdemonstrationen. Die Corona-Proste haben die neue Variante der „Spaziergänge“ geschaffen. Im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen ist der Begriff „Spaziergang“ natürlich auch ein Stück weit ein Spiel mit den Behörden, weil Demonstration mit der Anzahl an Leuten wegen der Pandemie offiziell nicht immer möglich sind und durch Gerichte verboten werden.
Zuletzt regte sich in der Region auch Gegenprotest gegen die Spaziergänge. Zwar gab es ortsweise immer mal wieder vereinzelt Gegenveranstaltungen, aber jetzt scheint sich der Gegenprotest erst wirklich zu formieren. Woran liegt das ihrer Meinung nach?
Bei sehr vielen Menschen, die diese Corona-Proteste nicht unterstützen, spielt hinein, nicht gegen die geltende Corona-Schutzverordnung verstoßen zu wollen oder Angst vor einer Ansteckung zu haben. Dadurch ist es während der Pandemie natürlich schwer, Menschen für einen Gegenprotest zu mobilisieren.
Was glauben Sie, wie lange diese Corona-Proteste und weitere Veranstaltungen dieser Art noch anhalten werden?
Ich glaube, dass das „ob“ und „wie“ der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht entscheidend sein wird: Kommt sie, wird es zu einer sehr starken Mobilisierung innerhalb der Corona-Skeptiker kommen. Dies könnte dann auch zu einer neuen Eskalationsstufe führen. Kommt die allgemeine Impfpflicht nicht, wird den Protesten ein Stück weit die Luft genommen. Ebenso entscheidend wird sein, ob das Virus im Laufe des Jahres endemisch wird. Werden die Maßnahmen im späten Frühjahr beziehungsweise Sommer beendet, nimmt man den Protesten ebenfalls ihre Sogkraft.