Düsseldorf. Julia Marmulla ist seit 2018 Linke-Fraktionsprecherin in Düsseldorf. Ein Gespräch über Karriere, Neo-Liberalismus, die Nato und Unterwasserrugby.
Julia Marmulla ist gut vernetzt in Europa. Sie hat einen großen Teil ihrer Jugend in Rom verbracht, ihr Vater arbeitete dort als Biologe für eine UN-Ernährungsorganisation. Die Mutter wiederum ist Französin, ihre Familie kommt aus dem Department Lot-et-Garonne zwischen Bordeaux und Toulouse. Die Eltern leben mittlerweile am Bodensee. Julia Marmulla ist 2011 nach Konstanz gezogen, Ende 2016 dann nach Düsseldorf. Die studierte Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin ist beruflich als Tourismusberaterin für barrierefreies Reisen unterwegs. Sie vertreibt ein kleines Magazin („Meine Reisewelt“). Mitglied bei der Düsseldorfer Linkspartei ist Marmulla seit 2018, Fraktionssprecherin wurde sie 2020. Als solche trat sie am Donnerstag wieder bei der Ratssitzung auf. Ein Gremium, in dem die 33-Jährige einen schweren Stand hat. Wir sprachen mit Julia Marmulla über politische Überzeugungen, Neoliberalismus, die Nato und – Unterwasserrugby.
Die erste Frage kommt ja immer von meiner Tochter. Sie möchte wissen, ob die Linken das genaue Gegenteil von den Rechten sind.
Julia Marmulla: Boah. Gute und schwierige Frage. Ich würde sagen: Nein. Denn die rechten Parteien wollen ja aus dem demokratischen Verständnis aussteigen oder sind schon ausgestiegen. Wir aber wollen in der demokratischen Sphäre bleiben. Wir wollen uns allerdings von dem kapitalistischen System verabschieden und vor allem von der dazu gehörigen Wirtschaftsform. Wir sind aber nach wie vor an Demokratie interessiert. Im demokratischen System sind wir das Gegenteil der CDU und FDP. Gesellschaftlich gesehen bilden wir natürlich den Gegenpol zur Rechten.
Dennoch schwingt bei der Linkspartei auch immer der Extremismus-Begriff mit. Der Verfassungsschutz hat euch schon im Visier gehabt. Fühlt man sich da – ganz profan gefragt – ungerecht behandelt?
Wir wurden zu Unrecht vom Verfassungsschutz beobachtet. Man versucht uns diese extreme Gesinnung oft anzukleben. Dieses Bild, dass Rechts und Links die beiden extremen politischen Enden eines Hufeisens sind, ist für mich künstlich hergestellt. Das ist ein Framing, in das uns die bürgerlichen Parteien hineinpressen wollen und entspricht nicht meinem Verständnis der Linkspartei. Der Faschismus hingegen ist eine reale Gefahr.
Zur Kommunalpolitik. Die Linken sind sehr aktiv auf lokaler Ebene, vertreten dort als Abgesandte der so genannten kleinen Leute oft strittige Meinungen. Man hört bei Ratssitzungen, die Linken würden über das Ziel hinaus schießen. Sie als Fraktionssprecherin werden oft verlacht im Gremium, nicht ernst genommen. Trifft Sie das?
Manchmal würde ich mir schon wünschen ernster genommen zu werden, aber ganz oft sehe ich das auch als Bestätigung. Also je mehr die FDP und Frau Strack-Zimmermann sich aufregen und je heftiger Herr Stieber von der CDU den Kopf schüttelt, desto mehr weiß ich, dass ich das Richtige gesagt habe. Wir vertreten ja auch eine bestimmte gesellschaftliche Klasse, die sonst im Rat nicht vertreten wird. Deren Sprachrohr sind wir, das ist unsere Aufgabe. Und es ist auch unsere Aufgabe, an der einen oder anderen Stelle mal zu überspitzen oder einen Sachverhalt von einer völlig neuen Seite zu betrachten. Das stößt auf Widerstand, und den muss man aushalten.
Das ist das Inhaltliche. Reden wir kurz über die Art der Darstellung. Es gibt Ratsleute, die den Saal verlassen, wenn Marmulla am Rednerpult steht. Sie sind tatsächlich sehr emotional, manchmal fahrig, hin und wieder gar schrill in Ihren Beiträgen. Schonmal über einen Rhetorikkurs nachgedacht?
(wirkt ein kleines bisschen beleidigt) Ich glaube, jeder muss seinen Stil finden. Ich denke auch, meine Beiträge sind auszuhalten. Und wenn Leute sagen, dass sie den Saal verlassen, dann ist das taktisches Geplänkel.
Sie setzen sich in Ihrem Beruf für barrierefreies Reisen ein. Das passt zu Ihrer politischen Überzeugung. Auch dort setzen Sie sich für eine benachteiligte Klientel ein.
So würde ich das nicht formulieren. Klar, Menschen mit Behinderung sind in der Gesellschaft oft benachteiligt, weil man eben viel mit Barrieren baut, etwa wenn man Treppen ohne Rampen baut. Und auch überall dort, wo etwas nicht in Leichter Sprache übersetzt wird. Ich habe aber selbst keine Behinderung. Das heißt, dass ich selbst nicht für diese Gruppe sprechen kann. Aber es ist eine Community, mit der ich mich austausche. Außerdem finde ich es wichtig, in seinem Beruf etwas Sinnstiftendes zu tun. Ich könnte mir jetzt nicht vorstellen, für einen Ölkonzern oder für Rheinmetall oder für ein anderes Unternehmen, das kein soziales Gewissen hat, zu arbeiten.
Als Expertin für Barrierefreiheit: Welche Schulnote würden Sie der Stadt Düsseldorf bei diesem Thema geben?
Das ist ganz schwierig zu beantworten. Weil man da zwischen den unterschiedlichen Behinderungsarten wirklich differenzieren muss. Die Düsseldorfer Museen zum Beispiel: Während der große Teil der Häuser, den ich kenne, für Rollstuhlfahrer gut nutzbar und erlebbar sind, gibt es wiederum noch kein Museum in Düsseldorf, das ein gutes Angebot für Blinde besitzt. Es gibt zwar hier und da Führungen, aber nach meinem Kenntnisstand ist noch kein Museum, das mit einem taktilen Leitsystem ausgestattet. An Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wird noch zu wenig gedacht. Nicht nur in Düsseldorf.
Andere gute linke Inhalte: bezahlbares Wohnen, Friedenspolitik, Bildung für alle. Trotzdem kommt linke Politik derzeit sehr schlecht beim potenziellen Wähler an. Was macht ihr falsch? Machen Sie sich darüber Gedanken?
Oh ja, mehrmals in der Woche. Tja, was machen wir falsch? Ich denke, die Partei ist zum Teil zerstritten und das wird natürlich medial hochgekocht. Das ist das eine. Und dann gibt es das Märchen von der individuellen Leistungsfähigkeit. Dass jeder in diesem Land alles schaffen kann, wenn er es nur will. Das ist die neo-liberale Denke, die ganz tief in unsere Gesellschaft eingesickert ist. Viele haben das internalisiert, obwohl es für sie ein Nachteil ist. Viele Menschen etwa, die die FDP wählen, sind näher an der Obdachlosigkeit, als dass sie sich darüber Gedanken machen sollten, wie sie Steuer sparen können. Mit unserem Steuermodell wären diese Leute besser gestellt.
Heißt, die Menschen rennen einem Traum hinterher, der für sie nicht zu erreichen ist.
Ja, genau. Und das ist vom Neoliberalismus genau so gewollt. Man lullt die Menschen ein, damit sie sich der brutalen Realitäten nicht bewusst werden. Und der dritte Punkt, warum wir Linke da stehen, wo wir stehen, sehe ich noch einmal selbstkritisch: Das ist unsere Sprache. Wir Linke stellen Sachverhalte manchmal zu kompliziert, zu komplex dar, zu viele Fremdworte, wir kommunizieren nicht niederschwellig genug.
Die Linken in der Klemme: Partei der Intellektuellen oder Arbeiterpartei.
Wir sind ganz klar eine Arbeiterpartei. Nur gibt es nicht mehr nur den typischen Industriearbeiter, der im Hafen oder im Bergbau schuftet. Wir haben ja mittlerweile eine ganz andere Arbeiterklasse. Das sind die Leute, die uns unser Essen nach Hause fahren, die Taxifahrer, aber auch die Künstler, die am Ende des Tages für andere Leute arbeiten. Mir wird manchmal vorgeworfen, wie könne ich bei den Linken sein, da ich ja selbstständig und Unternehmerin sei. Aber ich bin in meinem Job auch von Auftraggebern abhängig. Ich kann mein Geld nicht arbeiten lassen. Ich bin keine Kapitalistin. Ich muss meine Arbeitskraft tagtäglich zur Verfügung stellen, damit ich meine Miete zahlen kann. Das Bild des Arbeiters hat sich eben komplett geändert. Es gibt heutzutage viele Menschen, die soziales Kapital haben, also einen beachtlichen Bildungsweg gegangen sind, die aber trotzdem arm sind. Für diese Menschen, für uns alle, machen wir Politik.
Sie haben mal gesagt, Sie seien als Teenager durch die Ungerechtigkeit des Irak-Krieges politisiert worden. Das war der Anfang. Wohin soll Sie die Politik nun bringen?
Ich will schon noch weit kommen in der Politik. Und man sollte sich ja hohe Ziele stecken. Ich denke daher, ich will Bundeskanzlerin werden.
(Das sagt Julia Marmulla erstaunlicherweise, ohne großartig eine Miene zu verziehen.)
Okay, dann sagen Sie uns doch einmal als künftige Bundeskanzlerin, warum Sie aus der Nato austreten wollen?
(stöhnt) Ich glaube, die Nato ist gar nicht unser drängendstes Problem. Wir müssen aufhören, Waffen zu exportieren. Wir müssen mit dem Säbelrasseln aufhören. Ob man dann Teil eines Bündnisses ist oder nicht, finde ich absolut zweitrangig.
Ganz andere Frage: Stimmt es eigentlich, dass Linke immer bis mittags schlafen?
(lacht) Nein. Ich bin heute um 6.15 Uhr aufgestanden und hab dann mein Fitnessprogramm durchgezogen und dann Kaffee getrunken.
Sie sind für ein Wahlrecht ab 16. Warum?
Wir haben eine Gesellschaft, die immer älter wird. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen etwas wählen, was ihnen anscheinend gut tut, dann haben wir immer mehr Menschen, die die Belange der Älteren vertreten, zum Beispiel in der Rentenpolitik. Die Themen, die Jüngere angehen, sind unterrepräsentiert.
Was wären denn Themen, mit denen Ihre Partei die Jugendlichen abholen könnte?
Da ist die ökologische Frage, die beschäftigt viele junge Leute. Da haben auch wir Linke Antworten. Und wir wollen, dass diese Umweltpolitik auch stärker in den Parlamenten besprochen wird. Aber um auf die Frage mit dem Wahlrecht zurück zu kommen: Wir brauchen natürlich auch Strukturen, damit wirklich alle Jugendlichen ab 16 in die Lage versetzt werden, ihre politische Stimme abzugeben. Wir brauchen also Begleitung in der Schule, in den Jugendverbänden, um die Jugendlichen schon früh fit zu machen. Damit nicht nur die wählen gehen, die ohnehin schon früh politisch interessiert sind.
Corona und kein Ende: Wir spinnen mal ein bisschen herum: Wenn Sie morgen das Pandemie-Management für Düsseldorf übernehmen könnten, was würden Sie tun? Freedom Day?
Ich würde etwas ganz anderes machen: Ich würde jeden Menschen fragen, was ihm ökonomisch an Corona verloren gegangen ist – und das dann ausgleichen.
Schöner Plan. Woher nehmen Sie das Geld?
Ich würde Schulden machen. Das wäre es wert.
Und wenn dann irgendwann die Pandemie besiegt ist – Wohin würden Sie mit wem aus dem Düsseldorfer Rat in den Urlaub fahren?
Ich würden nach Rom reisen. Mit Bürgermeister Josef Hinkel, Bürgermeisterin Klaudia Zepuntke und Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Das würde sicher Spaß machen.
CDU, SPD, FDP. Da fehlt ein Grüner. Haben Sie was gegen die? Glauben Sie – wie viele in der Opposition –, dass die sich im schwarz-grünen Bündnis zu sehr von der CDU vereinnahmen lassen?
Es tut mir ja wirklich Leid für die Grünen. Aber das, was die zurzeit in Düsseldorf machen, ist wirklich das Letzte. Nach außen sagen sie: Wir sind das Gute und wir tun das Gute! Und in Wahrheit nehmen sie die ökologischen Fragen nicht ernst, sie nehmen die Verkehrswende nicht ernst, sie nehmen die finanziellen Sorgen der Menschen nicht ernst. Und das alles übertünchen sie dann mit einem Sprachduktus, der Progressivität vorgaukeln soll. Das macht Politik unglaubwürdig.
Sie haben lange in Rom gelebt. Welche typisch italienischen Eigenschaften sollten wir Deutsche uns zu eigen machen?
Ach, vielleicht, dass man Nudeln nicht zerkochen sollte. Das geht gar nicht. Der familiäre Zusammenhalt ist in Italien auch größer, irgendwie selbstverständlicher. Vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch das leidenschaftliche Reden. Dann blieben uns Schlaftabletten wie Olaf Scholz vielleicht erspart. Und vielleicht würden auch meine Reden in Italien besser ankommen.
Und dann sind Sie noch Halbfranzösin, Ihre Mutter kommt aus der Gegend um Bordeaux. Welche Staatsangehörigkeit würden Sie wählen, wenn Sie müssten?
Ich bin schon eher Deutsch als Französisch, allein, weil ich immer im deutschen Schulsystem unterwegs war und weil mir auch immer klar war, dass ich irgendwann nach Deutschland zurück gehen möchte. Aber ich bin froh, dass ich mich nicht entscheiden muss. Ich habe beide Staatsangehörigkeiten. Und ich finde gut, dass man in Deutschland seine Wurzeln auf dem Papier behalten kann.
Sie spielen angeblich Unterwasserrugby. Was soll das denn?
Na ja, ich war in Konstanz auf der Hochschule, und da wurde das eben gespielt. Das ist ein toller Sport, es gibt in Deutschland immerhin 3000 lizenzierte Spieler, ich gehöre dazu. In Köln, Neuss, Krefeld und Langenfeld gibt es Vereine. Dazu eine weltweite Community.
Was macht man beim Unterwasserrugby?
Das spielt man in einem tiefen Becken und muss versuchen, einen mit Salzwasser gefüllten Ball im Korb des Gegners zu versenken. Man trägt Maske, Flossen, Schnorchel. Das ist ein Kontaktsport, man darf angegriffen und festgehalten werden, wenn man den Ball hat. Da geht es zur Sache. Da kämpft man auch gegen sich selbst, also gegen den eigenen Luftverbrauch. Leider habe ich schon seit einem halben Jahr nicht mehr gespielt.
Interessieren Sie sich auch für, sagen wir, normale Sportarten?
Badminton finde ich gut, habe ich auch gerne gemacht in der Schule. Bouldern auch. Dann mag ich noch Fahrradfahren und Wandern.
Zum Schluss ein paar Entweder-oder-Fragen?
Klar.
Wissler oder Wagenknecht?
Wissler.
Geisel oder Keller?
Puh. Derzeit haben wir Keller.
Pils oder Alt?
Hä? Alt natürlich.
Adriano Celentano oder Heino?
Natürlich Adriano Celentano.
AS Rom oder Fortuna?
Na ja, Fortuna. Aber eigentlich weder noch. Ich war als Kind Lazio Rom-Fan. Bis ich gemerkt habe, dass da zu viele Rechte im Fan-Lager sind.
Nato oder Nahtod?
(lacht schallend) Nahtod. Tod. Wir müssen alle sterben.
Geld oder Liebe?
(überlegt) Brauchen wir beides. Aber von Liebe kann man nicht leben. Also: Geld.