Dinslaken. Jethro Tull mit Ausnahmeflötist Ian Anderson gaben im Fantastival ein umjubeltes Konzert vor ausverkauften Rängen.
Egal auf welchem Sender, überall läuft Jethro Tull. Setzen andere Bands für die Intros, zu denen sie auf die Bühne kommen, auf musikalische Kontraste, lässt Ian Anderson keine Zweifel, um wen es hier heute Abend im ausverkauften Burgtheater geht: Jethro Tull, „established in 1968“, wie auf dem Bandlogo altehrwürdig zu lesen ist. Der Unterschied ist allein: heute kommen die Hits nicht aus dem Äther (oder heimischen Schallplattensammlungen): Jethro Tull nimmt die Fans im Fantastival mit auf die Zeitreise von der Gegenwart bis in die Renaissance und wieder zurück durch die eigene Bandgeschichte, die sich über unfassbare sechs Jahrzehnte erstreckt.
Und dann kommt er selbst auf die Bühne gesprungen: Ian Anderson, so agil wie eh und je. Natürlich ist es sein Querflötenspiel, das ihm für immer den Platz am Rock-Olymp gesichert hat. Aber es ist ebenso das Charisma des Hexenmeisters des Britischen Rocks. Zauberer, Sartyr und Poet. Seine Verse singt er übers Mikro hinweg, wirft dabei den Kopf in den Nacken. Anderson reißt die rechte Hand in die Luft, wenn er zum Flötespielen nur die Töne mit der linken zu greifen braucht. Und auch das Bein wirft der gebürtige Schotte, der am 10. August 75 (!) wird, in die Höhe, wie er es schon in den frühen 70ern tat. Die ikonische Pose auf einem Bein teilt der „Teufelsflöter“ übrigens mit dem „Teufelsgeiger“ Paganini. Was für diesen gehässige Zeitungskarikatur im Bannkreis der Dämonen war, hat Anderson als Meister der Ironie, der er ebenfalls ist, zum Kult erhoben.
Und da steht er also nun auf einem Bein und spielt eben jenes „Living in the Past“ im vertrackten 5/4-Takt, das Bild und Sound von Jethro Tull für Generationen von Rockfans prägen sollte. Prog-Rock, Mittelalter-Rock, alles Jacke wie Hose: Jethro Tull ist Jethro Tull. Schauen Anderson und seine so beständig wechselnden wie immer großartigen Mitmusiker in die Schubladen, dann nur, um mit dem dort Gefundenen zu spielen wie mit Klamotten aus dem Kostümfundus. Neue und alte Gewänder für ein Original, das sich spielerisch bei allen Genres aus sechs Jahrhunderten und aus aller Welt bedient, um nur sich selbst treu zu bleiben.
Das Publikum tanzt und klatscht zu „Past time in good Company“, eine Komposition von Heinrich VIII. Den dubiosen Herrschern der Gegenwart widmet sich Anderson weniger freundlich. Bei allen Blicken in die Vergangenheit von Jethro Tull sollte man „The Zealot Gene“ nicht übersehen: In der Corona-Zeit zwischen dem geplanten Fantastival-Auftritt 2020 und dem Konzert am Sonntag brachte Anderson das erste neue Tull-Studioalbum seit 20 Jahren heraus. Eine Abrechnung mit Trump und Putin, eine hochaktuelle Warnung vor atomarer Bedrohung, eine Auseinandersetzung mit Gott und der Welt, wobei Erstgenannter höflichst um eine Auszeit vor dieser Menschheit erbittet. Anderson schließt mit dem neuen Material nahtlos an die ganz großen Zeiten Anfang der 70er an.
„Dharma for One“ mit dem Schlagzeugsolo für Clive Bunker. Nein, das ist nicht die „Pinkelpause“ im Konzert, auch wenn es Anderson mit seiner berüchtigt gemeinen Art so ankündigt. Heute, gefühlt 95 Schlagzeuger weiter, ist es das große Solo von Scott Hammond. Joe Parish, der Anderson auch stimmlich unterstützt, erweist sich als kongenialer E-Gitarrist neben dem Querflöten-Virtuosen. John O’Hara (Orchestral conductor, piano, keyboards) hat seinen großen Moment natürlich erst zum Schluss, wenn er „Locomotive Breath“ mit dem Klavierpart einleitet. David Goodier bringt auf dem Bass zu Gehör, wie Bachs Bourree in e-Moll BWV 996 klingt, wenn es nicht zum „Porno-Jazz“ gemacht wird, wie Anderson seine legendäre Version nennt, mit der er Rock und Barock 1969 verband und die Tulls musikalische Visitenkarte blieb.
Prog-Rock: Das Etikett haftet auch, ist aber wohl eher Missverständnissen geschuldet, auch wenn Anderson selbst inzwischen von den „Prog-Years“ spricht. Die Songstrukturen von Jethro Tull sind ungemein komplex, die Art und Weise, wie die gängigen Bandinstrumente zum Einsatz kommen, entspricht dem Spiel mit den Klangfarben in einem Orchesterwerk. Hinzu kommen die Einflüsse aus der Alten Musik, gepaart mit einer wuchtigen Opulenz. Kostproben gefällig? Das Fantastival bot sie alle: „Too old to Rock ’n’ Roll“, „Songs from the Wood“, „Love Song“, „Aqualung“ mit ausgedehntem Instrumentalteil, in dem jedes Bandmitglied alle seine Register zieht, „Clasp“.
Und im Mittelpunkt von allem: Anderson Flötenspiel. Das soundprägende, „dreckige“ Flattern, die Virtuosität und Geschmeidigkeit der Läufe, das atemberaubende Tempo und die ungezügelte Expressivität.
Zum Schluss verbeugt sich Anderson vor der begeisterten Menge so tief, dass er – nicht ganz uneitel – bei durchgestreckten Beinen mit den Fingerspitzen den Bühnenboden berührt. Samstag Niedecken, Sonntag Anderson: Wenn der Rock ‘n’ Roll dich nicht umgebracht hat. hält er dich wohl für immer jung.
Ian Anderson, Jahrgang 1947, bringt es auf sage und schreibe 41 Band- und Solo-Alben. Die jüngste Veröffentlichung, „The Zealot Gene“, erschien 2022. Anderson ist Sänger, Komponist und Multiinstrumentalist. Zum Querflötespielen kam der gebürtige Schotte erst kurze Zeit vor dem ersten Studioalbum „This was“ von 1968. Anderson ist Autodidakt auf dem Instrument, das sein Markenzeichen werden sollte.