Dinslaken. Edith Mendel hat in den Jahren ihrer Tätigkeit einen immensen Wandel im Bibliothekswesen erlebt – von der Karteikarte bis zur Digitalisierung.
Als Edith Mendel am Freitag zum letzten Mal durch ihre Bibliothek schlenderte, lagen 43 Jahre und sieben Monate Dienst bei der Stadtverwaltung hinter ihr. Jahre, in denen sich auch im Buchbereich viel getan hat. Jahre, die sie nicht missen möchte. „Ich war gerne Bibliothekarin, doch alles hat seine Zeit“, sagt sie. „Jetzt kommt eine neue Zeit, auf die ich mich freue. Sie wird eben anders gefüllt.“ Ohne Bücher wird diese aber auch nicht sein. Denn es warten viele Exemplare auf sie, die sie noch nicht gelesen hat. Vor allem Bücher über den hohen Norden, über die Arktis und die Gegenseite – die Antarktis.
Bücher waren schon immer ihre Leidenschaft. „Nachdem ich in der Volksschule Lesen gelernt habe, hat sich mir eine ganz neue Welt eröffnet, die so wunderbar war“, gesteht die scheidende Bibliothekarin. Sie habe alles gelesen, was ihr in die Finger kam, doch als ihre Mutter entdeckte, dass die Tochter sich aus ihrem Bücherschrank „Vom Winde verweht“ auslieh, fand sie diese Lektüre doch ein wenig zu speziell für ein Kind. Also schnappte sie sich die Tochter, fuhr mit ihr in die Stadtbibliothek von Wesel und meldete sie an. Ein Ereignis, das prägend für ihr ganzes Leben sein sollte. Damals stand noch eine gestreng wirkende Bibliothekarin hinter einem hohen Tresen und lieh die Bücher aus. Da stand für die kleine Edith fest: „Das möchte ich auch einmal werden.“ Übrigens, das Buch „Vom Winde verweht“ besitzt sie heute noch.
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Am 6. Dezember 1977 war es soweit, das Studium war beendet, der Berufsalltag konnte beginnen – in der Stadtbibliothek von Dinslaken. Den heutigen Bau gab es noch nicht, die Stadtbücherei befand sich damals im Haus des Handwerks, dann im Nebenbau des alten Stadthauses. Dort und in der Zweigstelle Hiesfeld verdiente sich die scheidende Bibliotheksleiterin ihre ersten Sporen. Zuerst nur mit einem Zeitvertrag eingestellt, gab ihr der damalige Chef Jens Hundrieser schließlich den Auftrag, ein Konzept für eine Zweigstelle in Lohberg zu erstellen. „Machen Sie mal“, lautete seine Arbeitsanweisung. Edith Mendel machte und 1980 ging die Zweigstelle an den Start. „Die Stadt Dinslaken war recht fortschrittlich in der Bibliotheksarbeit für Bürger mit Migrationshintergrund“, erinnert sich Edith Mendel. Die dortige Bücherei sollte eine Begegnungsstätte für Alt- und Neubürger werden – mit türkischem Buchbestand.
Also lernte Edith Mendel Türkisch, setzte sich mit türkischen Buchmessen und Verlagen in Verbindung und machte Fehler. Mendel lacht. „In Lohberg gehen die Uhren anders, auch in der Öffentlichkeitsarbeit, das musste ich erst lernen“, sagt sie. Und erzählt von ihrem Glück, den türkischen Autorenstar Fakir Baykurt für eine Kinderlesung gewinnen zu können. Es wurden Plakate gedruckt, die Presse eingeladen, doch in Lohberg war man sehr verhalten. Niemand konnte sich vorstellen, dass ein so berühmter Mann zu ihnen kam. Und so waren an jenem Tag nur drei, vier Kinder da, erzählt Edith Mendel.
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„Doch fünf Minuten nach Beginn schellte es an der Tür. Ein kleiner Junge stand davor und fragte, ob denn Fakir Baykurt wirklich da sei. Als ich seine Frage bejahte, drehte er sich um und verschwand. Ein paar Minuten später schellte es wieder. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, aber dutzende Kinder mit ihren Eltern begehrten auf einmal Einlass. Es war eine tolle Lesung.“ Heute ist die Zweigstelle, inzwischen im Ledigenheim angesiedelt, gesetzt im Stadtteil. Kinder und Eltern lieben sie und besuchen sie oft, für alle nur erdenklichen Zwecke. Eine stadtteilgerechte Bücherei war eingerichtet, deren Bestand an den Bedarfen der Lohberger ausgerichtet ist.
Inzwischen hatten die Dinslakener auch in der Innenstadt eine neue Bibliothek erhalten, die zur damaligen Zeit Maßstäbe setzte. 1994 wurde Edith Mendel stellvertretende Leiterin der Gesamtbibliothek, 2005 ihre Leiterin, später Fachdienstleiterin im Zusammenschluss mit dem Stadthistorischen Zentrum (Archiv und Museum). Viel ist in der Zeit passiert: Das 100-jährige Jubiläum wurde gefeiert, die Onleihe eingeführt, digitale Datenbanken erschaffen und E-Books eroberten die Büchereien. Die Selbstverbuchung kam, das Lerncenter für Schülerinnen und Schüler, der Kinder- und Jugendbereich wurde neu gestaltet, seit vier Jahren gibt es mehr Arbeitsplätze für Besucherinnen und Besucher und seit diesem Jahr sind das neue Cloud-Verfahren und eine neue Software eingeführt.
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„Angefangen habe ich mit dem Schreiben von Karteikarten, auf die die ausgeliehenen Bücher notiert wurde und jetzt hinterlasse ich eine volldigitalisierte Bibliothek“, sagt sie. Wie gut es letztendlich alles geworden sein, darüber müssten die Leserinnen und Leser entscheiden, so Mendel.
Die 2019 ins Leben gerufene Sonntagsöffnung als Modellprojekt kam jedenfalls gut an. Corona unterbrach diese Aktion allerdings. Viele Projekte wurden gestartet, auch mit Hilfe des Freundeskreises Stadtbibliothek und Stadtarchiv. Sie alle zu nennen, würde den Rahmen dieser Abschiedsgeschichte sprengen. Die „Nacht der Bibliotheken“ wurde zum Selbstläufer, die Ausstellungen und Mitmach-Projekte ebenfalls.
Lob an „hervorragendes Team“
So viel sei noch zu sagen, ein wichtiger Punkt davon ist – im landesweiten Ranking der Bibliotheken nahm Dinslaken immer einen Spitzenplatz ein. Auch und gerade in der Corona-Krise wurde Dinslaken für seine stattfindenden Aktionen gelobt. „Aber all dies hätte ich ohne ein hervorragendes Team nicht schaffen können“, sagt Edith Mendel. Die Mitarbeiter hätten wie eine Familie zusammengearbeitet und alles mitgetragen. Eine Familie, die Edith Mendel trotz Aufbruchs in ein neues Leben, in ein neues Abenteuer sicherlich hin und wieder vermissen wird.