Essen. Immer mehr Eltern lassen ihre kleinen Kinder in ihrem Bett übernachten – Co-Sleeping ist wieder Trend. Experten geben Tipps und warnen vor Risiken.

„Es war keine bewusste Entscheidung, sondern pure Notwendigkeit“, erzählt Lina und zieht den Reißverschluss ihrer grauen Strickjacke bis zum Kinn. Nach der Kaiserschnittgeburt ihrer ersten Tochter war jeder Schritt eine Qual. Der Weg zum Kinderbett? Unvorstellbar. Also blieb das Baby bei ihr im Bett – eine pragmatische Lösung, die schnell zur Gewohnheit wurde. Heute, fünf Jahre später, ist das gemeinsame Schlafen für ihre Familie längst Alltag. Ihre Tochter schläft weiterhin regelmäßig bei ihren Eltern im Familienbett.

Inzwischen ist Lina, heute 38 Jahre alt und unter diesem Namen anonymisiert, wieder schwanger. Ihr Schlafzimmer hat sich verändert: Ein großes Familienbett dominiert den Raum. Der alte Drang, das Co-Sleeping zu verheimlichen? Geschichte. „Warum sollte ich mich verstecken?“, fragt sie. Ihre erste Tochter ist gesund aufgewachsen, das gibt ihr heute Sicherheit.

Wenn sie durch Instagram scrollt, sieht sie lachende Gesichter – Mütter und Influencerinnen, die stolz ihre Familienbetten zeigen, ihre Nähe und Geborgenheit. Diese Bilder sind längst keine Ausnahme mehr, sondern Teil eines Trends.

Der Aufschwung des Familienbetts – Co-Sleeping liegt wieder im Trend

Co-Sleeping liegt in Deutschland im Trend. Der Begriff beschreibt die Praxis, dass Kinder in unmittelbarer Nähe ihrer Eltern schlafen, sei es im selben Bett oder direkt daneben. Auf Instagram teilen heute Influencerinnen wie @Annamariadamm, @dr.bea.kinderaerztin oder @Paulina_sophiee ihre persönlichen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Schlafen.

Auch die Kinderpsychologin Andrea Salzmann spürt den wachsenden Trend in ihrer Arbeit. „Ja, ich sehe diesen Trend“, sagt sie. Immer mehr Eltern sprechen sie auf Co-Sleeping an.

Auch die Wirtschaft hat das Potenzial von Co-Sleeping erkannt. Die Firma „Liegewiese“ etwa hat sich auf maßgeschneiderte Familienbetten spezialisiert und setzt auf gezielte Werbung über Instagram. Eine Strategie, die offenbar funktioniert. „Im ersten Monat nach dem Start haben wir 40 Betten verkauft“, berichtet Gründerin Nora-Eilin Reinicke dem Portal Digitale Erfolgsgeschichten. „Unser Online-Shop zählte fast 20.000 Besucher.“

Ein Trend, der polarisiert

Die Debatte um Co-Sleeping ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine kulturelle. Während die Praxis in Asien und Afrika als selbstverständlich gilt, warnen westliche Gesundheitsexperten seit Jahren davor. Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung schlafen mit ihren Kindern in einem Bett. Die American Academy of Pediatrics (AAP) rät dagegen dringend davon ab, Säuglinge im Bett der Eltern schlafen zu lassen.

Co-Sleeping – die Debatte darum ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine kulturelle.
Co-Sleeping – die Debatte darum ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine kulturelle. © Shutterstock / AboutLife | AboutLife

Trotz der Kritik zeigen Studien auch positive Effekte. Ein Übersichtsartikel in der Fachzeitschrift Infant Behavior and Development beschreibt Co-Sleeping als einen evolutionären Kontext, der das Stillen fördert und die Synchronisation zwischen Mutter und Kind stärkt. Entscheidend sei jedoch, auf sichere Bedingungen zu achten. „Anstatt Co-Sleeping zu verbieten, sollte die öffentliche Gesundheitskommunikation kultursensibel aufklären“, heißt es in der Studie.

Die Kinderpsychologin Andrea Salzmann sieht Vorteile in der Praxis: „Das Familienbett kann Nähe schaffen und Vertrauen sowie Verbundenheit stärken. Kinder, die nachts die Sicherheit ihrer Eltern spüren, nehmen dieses Gefühl oft mit in den Tag. Insbesondere dann, wenn die Eltern berufstätig sind und tagsüber wenig verfügbar sein können.“

„SIDS ist vor allem in den ersten Lebensmonaten eine reale Gefahr“, sagt Kinderärztin Felderhoff-Müser.

„Nähe ist wichtig – aber die Sicherheit des Kindes steht immer an erster Stelle.“

Ursula Felderhoff-Müser
Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin

Ein Blick in die internationale Forschung zeige, dass vom Schlafen im Elternbett abgeraten werde, so Ursula Felderhoff-Müser. Studien hätten gezeigt, dass Kissen, Decken oder sogar die Schlafposition der Eltern eine Gefahr darstellen könnten. Selbst ein Arm, der im Schlaf das Baby berühre, könne die Luftzufuhr blockieren, betont sie.

Co-Sleeping in Deutschland: ein Tabu

Co-Sleeping ist nach wie vor ein Tabuthema. Manche Eltern vermeiden es, offen darüber zu sprechen, dass ihr Baby nachts in ihrem Bett schläft. Zu groß ist die Angst, verurteilt zu werden.

Die Angst vor dem plötzlichen Kindstod (SIDS – Sudden Infant Death Syndrome) ist für viele Eltern ein ständiger Begleiter. SIDS bezeichnet den unerklärlichen Tod eines ansonsten gesunden Babys im Schlaf. Immer wieder beugen sich Eltern nachts über ihr Baby, lauschen, fühlen, warten. Ein Atemzug – und der nächste?

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„SIDS ist vor allem in den ersten Lebensmonaten eine reale Gefahr“, sagt Kinderärztin Felderhoff-Müser. Noch in den 1990er-Jahren starben in Deutschland 1,5 von 1.000 Säuglingen daran. Aufklärung und Prävention haben die Zahlen drastisch gesenkt – heute liegt die Rate bei 0,22 Fällen pro 1.000 Geburten.

Theorien und Hinweise auf mögliche Ursachen gibt es viele. Möglicherweise ist das Atemzentrum im Gehirn noch nicht ausgereift. Auch genetische Defekte und unerkannte Infektionen stehen im Verdacht, das Risiko zu erhöhen. Klar ist nur: Der Schutzreflex des kindlichen Körpers, auf Sauerstoffmangel und Atemstillstand zu reagieren, funktioniert bei SIDS nicht so, wie er sollte. Die Babys ersticken im Schlaf. Doch das Thema bleibt komplex. „Selbst das Schlafen im eigenen Bett ist nicht ohne Risiko“, relativiert Felderhoff-Müser. „Kissen, Decken oder Kuscheltiere sollten nicht verwendet werden, auch zu hohe Temperaturen können gefährlich sein.“

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Ein weiterer Aspekt ist die Förderung der Selbstständigkeit. „Es gab Zeiten in Deutschland, da durften Kinder nicht bei den Eltern schlafen – aus Angst, sie könnten ‚verwöhnt‘ werden“, erklärt die Kinderpsychologin Salzmann. „Ich bin nicht der Auffassung, dass sich das Co-Sleeping auf die kindliche Autonomie-Entwicklung negativ auswirkt. Kinder haben ein natürliches Bestreben, Dinge selbst zu schaffen. Gerade aus einem Gefühl der Sicherheit heraus, und mit dem Wissen, dass sie geborgen und gehalten sind, gelingt dies am besten.“

Nähe ohne Risiko?

Als sichere Alternative empfiehlt Ursula Felderhoff-Müser, Direktorin der Essener Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, das Beistellbett: „Es bietet alles, was ein Baby braucht: die Nähe der Eltern, das beruhigende Geräusch ihres Atems – und gleichzeitig einen sicheren, eigenen Schlafplatz.“ Die Entscheidung zwischen Familienbett und Beistellbett ist für viele Eltern aber mehr als eine praktische Frage. Sie spiegelt die Unsicherheit wider, die durch die Flut von Meinungen und Ratschlägen entsteht.

Felderhoff-Müser zeigt Verständnis für diese Überforderung, warnt aber vor dem Einfluss sozialer Medien: „Die besten Entscheidungen basieren auf Fakten, nicht auf Trends aus dem Netz.“ Sie fügt lachend hinzu: „Ich bin froh, dass ich kein Kind mehr bekommen muss“.

Die elterliche Intuition

„Eltern kennen ihr Kind am besten“, betont die Kinderpsychologin Andrea Salzmann und rät dazu, auf die eigene Intuition zu vertrauen. Statt sich von sozialen Medien oder unzähligen Ratgebern verunsichern zu lassen, sollten Eltern ihr Kind genau beobachten und sensibel auf seine Bedürfnisse reagieren. „Wer emotional präsent ist und feinfühlig auf das Kind eingeht, spürt meistens intuitiv, was richtig ist“, erklärt sie. Besonders im Familienbett sind bestimmte Rituale entscheidend: Es sollte dunkel und ruhig sein, feste Zubettgeh- und Aufstehzeiten sollten beachtet und auf Fernsehkonsum unbedingt verzichtet werden, so Salzmann.

Die Kinderpsychologin Andrea Salzmann sieht Vorteile in der Praxis: „Das Familienbett kann Nähe schaffen und Vertrauen sowie Verbundenheit stärken.“

„Eltern sind die besten Experten für ihre Kinder. Statt auf soziale Medien zu hören, sollten sie auf ihre elterliche Intuition vertrauen.“

Kinderpsychologin Andrea Salzmann

Jedes Kind sei einzigartig, betont Salzmann. Pauschale Empfehlungen helfen wenig – entscheidend sei, individuell auf das Kind einzugehen. Das Familienbett etwa könne Geborgenheit schaffen, wenn es für alle passt. Genauso müsse aber die Entscheidung, das Kind im eigenen Bett schlafen zu lassen, respektiert werden. „Weniger Dogmatismus, mehr Offenheit – darauf kommt es an“, so Salzmann.

Am Ende zählt, dass Eltern und Kind gut schlafen und sich wohlfühlen. Statt stundenlang Ratgeber zu wälzen, rät Salzmann: „Verbringen Sie die Zeit lieber mit Ihrem Kind.“

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