Essen. Amir flüchtet mit seiner Familie aus Afghanistan, für ein besseres Leben. Doch der Albtraum geht in Deutschland weiter – seine Frau schlägt ihn.
Als Amir die Polizei zum ersten Mal um Hilfe ruft, halten sie ihn für den Schuldigen. Seit viereinhalb Monaten wird der gebürtige Afghane zu diesem Zeitpunkt von seiner Ehefrau kontrolliert, erniedrigt, geschlagen. Für die Beamten scheint dennoch zunächst eindeutig: Er ist der Täter.
Amir heißt anders. Sein Name ist zu seinem Schutz geändert, sein Aufenthaltsort geheim. Er kam 2022 mit seinen beiden Söhnen und seiner Frau Marwa nach Deutschland. Das ist nicht ihr richtiger Name. Wie viele andere Afghaninnen und Afghanen wollte er nicht länger im Land leben, das von den Taliban regiert wird. Doch für Amir fing der Albtraum in Deutschland erst richtig an. Eine Drohung, die seine Frau in der alten Heimat häufig ausgesprochen hat, wird hier zur Realität: Sie beginnt ihn zu schlagen, beinahe täglich.
Gewalt gegen Männer: Rund 35.000 Männer waren 2023 Opfer von Gewalt in der Partnerschaft
Fast 170.000 Menschen wurden in Deutschland im vergangenen Jahr Opfer von Gewalt in der Partnerschaft – das sagt die Statistik des Bundeskriminalamtes. 80 Prozent sind Frauen. Aber auch etwa 35.000 Männer waren betroffen. Damit ist die Zahl der Fälle von partnerschaftlicher Gewalt in den vergangenen fünf Jahren um fast 20 Prozent gestiegen. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Auch Amir schämte sich lange Zeit, um Hilfe zu bitten, hatte Angst, ihm würde niemand glauben. Ein Jahr lang harrte er aus. Seine Geschichte können wir nicht gänzlich überprüfen, Sozialarbeiter bestätigen die Eckdaten.
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Wir treffen Amir in einem Café. Er rührt seinen Cappuccino kaum an, während er von der „schlimmsten Zeit in seinem Leben“ berichtet. „Ich habe mir häufig eine außenstehende Person gewünscht, der ich alles erzählen kann“, räumt er ein. Stattdessen bricht ihm die einzige Konstante mit dem Umzug nach NRW weg: seine Familie.
Gleich am ersten Abend in Deutschland beginnt Marwa demnach einen Streit – die Wohnung, die der deutsche Staat stellt, sei zu klein. Solche Auseinandersetzungen kannte Amir bereits aus der Heimat. Dort habe das junge Paar in einem Haus mit seinen Eltern und seinem Bruder gewohnt, seine heutige Ex-Frau habe sich häufig beherrscht. „Ihr war immer wichtig, was andere von ihr denken“, sagt der 38-Jährige rückblickend.
Opfer von häuslicher Gewalt: „Sie sagte, mir würde in Deutschland niemand glauben“
Mit der Zeit eskaliert die Situation. Während der Umzug für Marwa mehr Freiheiten bedeutet, schränkt sie die von Amir Schritt für Schritt ein. „Sie hat mich viereinhalb Monate in unserer Wohnung eingesperrt“, behauptet er. Amir darf nirgendwo ohne Marwa hingehen. Sie überwacht seine Anrufe und Nachrichten. Sie selbst geht derweil häufig alleine aus, befreundet sich mit afghanischen Einwanderern, zieht sich westlicher an.
Lange fühlt sich Amir hilflos. Er hat sein Leben in Afghanistan hinter sich gelassen, noch keine Freunde in Deutschland und beherrscht die Sprache nicht. Um Hilfe zu bitten, macht ihm Angst – zu groß die Sorge, abgeschoben zu werden oder seine Kinder nicht mehr sehen zu können: „Meine Frau hat mir erzählt, dass Frauen in Deutschland mehr wert seien als Männer. Dass mir niemand glauben würde.“ Amirs Stimme bricht, als er sagt: „Sie drohte mir. Sie würde der Polizei erzählen, ich würde sie schlagen. Sie hatte die Macht über mich.“
„Eine solche Situation müsse man einfach aushalten“
Nach viereinhalb Monaten ruft Amir dann doch die Polizei. Fast täglich schlägt Marwa ihn, versichert er. An diesem Tag hebt sie eine Vase und will sie ihm über den Kopf ziehen. Er stoppt sie, wählt die 110. „Es wurde einfach zu viel. Ich hatte Angst, dass ich mich eines Tages wehren würde“, erinnert er sich. Denn eins beteuert der 38-Jährige: Geschlagen habe er sie in all der Zeit nie. Zu wichtig seien ihm seine Kinder, zu sehr sei er gegen Gewalt. Nachdem die Polizei zunächst Amir verdächtigt, kann er die Situation aufklären. Die Beamten bringen ihn in eine Gemeinschaftsunterkunft für Einwanderer.
Seine Söhne sind der Grund, weshalb Amir schließlich zu Marwa zurückgeht. „Ich habe mich für meine Familie verantwortlich gefühlt“, sagt er heute. Von seinen Eltern und Bekannten habe er oft gehört, er solle in der Ehe bleiben, sich nicht scheiden lassen. „In unserer Kultur ist der Mann für alles verantwortlich. Eine solche Situation soll man einfach aushalten, sagten sie. Das wäre jetzt mein Leben.“
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Betroffener findet Zuflucht in einer Schutzwohnung in Düsseldorf
Acht weitere Monate bleibt Amir, ruft noch zweimal die Polizei, dann verlässt er seine damalige Ehefrau. Diesmal endgültig. Er habe es nicht mehr ausgehalten. „In meinem Kopf hat sich alles zugezogen. Ich wollte nur noch weg“, blickt er zurück. Zunächst wird er im Männerhaus des Sozialdienst katholischer Männer (SKM) in Düsseldorf untergebracht.
20 Plätze an fünf Standorten in NRW stehen aktuell für betroffene Männer von häuslicher Gewalt zur Verfügung. In Düsseldorf sind es vier. Zwischen Januar und Mitte November wurden dort 13 Männer und zwei Kinder aufgenommen. Es gab 85 Anfragen. „Der Bedarf ist also viel größer“, sagt Männer- und Gewaltberater Manfred Höges vom SKM. „Wir hatten in diesem Jahr noch nicht einen Platz frei.“ Amir hat Glück, er findet Zuflucht in einem dieser Männerhäuser. „Anders wäre ich da vielleicht nicht dauerhaft rausgekommen“, sagt er.
„Ich wollte unseren Kindern ihre Mutter nicht wegnehmen“
Bei einer Sache ist er sich mittlerweile sicher: „Ich hätte mich eher scheiden lassen, hätte die ewige Erniedrigung nicht über mich ergehen lassen sollen.“ Zu lange habe er an der Hoffnung festgehalten, Marwa würde aufhören und sie könnten friedlich als Familie zusammenleben. „Ich weiß jetzt, die einzige Möglichkeit ist, so eine Beziehung zu verlassen. Ich war nicht schuld.“
„Ich weiß jetzt, die einzige Möglichkeit ist, so eine Beziehung zu verlassen. Ich war nicht schuld.“
Heute wohnt er in einer kleinen Wohnung in einer nordrhein-westfälischen Großstadt. Häufig fühlt er sich allein. Doch er hat viel zu tun. Neben einem Sprachkurs für das Sprachniveau B2 arbeitet Amir als Lieferant bei einem Lieferdienst. Nebenbei bewirbt er sich für Stellen an Hochschulen. „In Afghanistan habe ich zuletzt für eine Uni gearbeitet“, erzählt er.
Seine beiden Söhne sieht er einmal die Woche. Marwa versuche dann manchmal, mit ihm in Kontakt zu kommen. Das ignoriere er. Als ihn der jüngere Sohn vor kurzem bei einem gemeinsamen Ausflug fragte, warum sein Vater gegangen sei, antwortete dieser: „Du weißt, warum ich gegangen bin. Sie hat mich geschlagen. Es war besser so, für mich und für euch.“
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Warum er sie nie angezeigt hat? Amir zögert einen Moment. „Ich wollte unseren Kindern nicht ihre Mutter nehmen.“ Die Angst, ihm würde keiner glauben, ist immer noch da. Und auch die seelischen Narben. Doch in ein Zuhause ohne Gewalt gehen zu können, das könne er nicht mit Worten beschreiben. Er lächelt. „Ich bin jetzt frei, vielleicht sogar ein bisschen glücklich.“
Betroffene können sich an das Männerhilfetelefon unter der bundesweiten Telefonnummer
08001239900 wenden. Hilfe findet man auch im Internet auf der Seite des Opferschutzportals: www.opferschutzportal.nrw und auf der Seite des SKM: www.skmev.de.