Essen. Essener Spezialist spricht von einer „Katastrophe“. Hintergrund ist Streit um die Vergütung. Aber es geht nicht nur ums Geld.

Anderthalb Jahre warten Kinder im Ruhrgebiet auf ein „Paukenröhrchen“ oder die Polypen-Entfernung. Denn immer mehr Nasen- Ohren-Ärzte operieren nicht mehr. Ambulante Eingriffe wie Adenotomien (Entfernung der Rachenmandeln/Polypen), Tonsillotomien (teilweise Entfernung der Gaumenmandel) oder das Einsetzen eines „Paukenröhrchens“ rechneten sich nicht, sagen sie. Stimmt nicht, sagen Krankenkassen und sprechen von einer „empörenden Kampagne“.

Die Zahl sei ganz frisch, sagt Gerd-Hermann Büscher, niedergelassener Hals-, Nasen-, Ohrenarzt in Essen und Vorsitzender des Bezirks Ruhr im HNO-Berufsverband. „Anderthalb Jahre“, wiederholt er, „muss ein Kind im Ruhrgebiet auf eine ambulante HNO-Operation warten. Das ist eine Katastrophe!“ Betroffen seien zumeist Kinder zwischen zwei und sechs Jahren, die Vergrößerung der Rachen- oder Gaumenmandeln führe oft zu einer schlechteren Belüftung des Mittelohrs und das möglicherweise zu einer Minderung des Hörvermögens. „Und wenn Kinder schlecht hören, können sie Sprache nicht normal entwickeln. Und diese Entwicklungsverzögerung tragen sie ein Leben lang mit sich rum.“

„Nicht für Gotteslohn, wenn gleichzeitig die Kosten explodieren“

Büscher hat früher viel operiert, seit acht Jahren aber: keinen einzigen Patienten mehr. Er liebe seinen Beruf noch immer, erklärt er, zu helfen mache Freude, „aber nicht für Gotteslohn, wenn gleichzeitig die Kosten explodieren“.

Eine Neuregelung der Vergütung ambulanter HNO-Eingriffe hatte Anfang 2023 zu einem Boykott-Aufruf der HNO-Verbände geführt. Den 4500 Praxen-Ärzten im Land wurde empfohlen, „bis zu einer deutlichen verbesserten Bezahlung durch die Krankenkassen (...) keine neuen Termine für Mandeloperationen bei Kindern (zu) vergeben.“ Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen, (GKV) der zusammen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung über die Höhe der Vergütung entscheidet, war empört und stellte klar: Dass Ärzte etwa für eine Adenotomie künftig nur vier Euro weniger als bislang erhalten sollten (107 statt 111 Euro), und für aufwendigere Eingriffe gar mehr als zuvor.

AOK: Keine sonderlich große Nachfrage seitens der Versicherten

„Unser Verständnis hört in dem Moment auf“, so GKV-Sprecher Florian Lanz auf Anfrage der WAZ, „wo der Kampf um Partikularinteressen auf dem Rücken der Patienten und Patientinnen ausgetragen wird.“ Operativ tätige niedergelassene HNO-Ärzte und Ärztinnen erwirtschafteten mit ihren Praxen je Praxisinhaber einen Brutto-Reinertrag von 21.116 Euro monatlich. Lanz beruft sich dabei auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2021 – und spricht von ethischen Grundsätzen, die verrutscht seien. „Das kann man sich gar nicht ausdenken: Ein HNO-Arzt weigert sich trotz seines fünfstelligen Monatseinkommens, kranke Kinder zu operieren, weil er angeblich zu wenig Geld dafür bekommt. „Er finde das „schwer erträglich“.

„„Das kann man sich gar nicht ausdenken: Ein HNO-Arzt weigert sich trotz seines fünfstelligen Monatseinkommens, kranke Kinder zu operieren, weil er angeblich zu wenig Geld dafür bekommt.“

Florian Lanz
GKV-Sprecher

Eine Sprecherin der AOK Rheinland/Hamburg nennt es „inakzeptabel“, wenn für finanzielle Forderungen „Sorgen und Ängste bei Familien in Kauf genommen werden“. Gleichzeitig betont sie, dass es „keine sonderlich große Nachfrage seitens der Versicherten“ nach ambulanten HNO-OPs gebe und „nur eine geringe Zahl von Fällen bekannt“ sei, in denen Kinder mit entsprechender Indikation unversorgt geblieben seien. Man habe auch „keine Hinweise auf einen Rückzug der HNO-Ärztinnen und -Ärzte aus dem operativen Geschäft“. Den Angaben der Krankenkasse zufolge wurden 2023 bei ihren Versicherten ambulant 4268 Mandel-, 303 Paukenröhrchen- sowie 587 Polypen-OPs durchgeführt, in den beiden Vorjahren seien es weniger gewesen.

HNO-Ärzte beendeten im Juli ihren „Boykott“

Tatsächlich erklärten die HNO-Ärzte im Juli ihren Boykott für beendet, nachdem ihnen mit „Zwangsverpflichtung“ gedroht und ein „Hygieneaufschlag“ für ambulante OPs beschossen worden war. Jeder solle nun für sich entscheiden, ob er weiter operiere oder nicht, hieß es. 50 Prozent der HNO-Ärzte, erklärte Dirk Heinrich in dieser Woche im WDR, hätten inzwischen aufgehört. Heinrich ist Präsident des Deutschen Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte, und wie der Essener HNO-Arzt Büscher bezweifelt er die Zahlen der Statistiker: „21.000 Euro im Monat hätte ich gern, habe ich aber nicht“, sagen beide.

„Es gibt Patienten, denen müssen wir wegen der langen Wartezeiten sogar übergangsweise Hörgeräte verschreiben.“

Dr. Klaus-Peter Tillmann
Hals-, Nasen-, Ohrenarzt in Witten

HNO-Spezialist Klaus-Peter Tillmann hat für Oktober noch OP-Termine zu vergeben. Für Oktober 2025 – auch in Westfalen warten Kinder „fast ein Jahr“! Tillmann betreibt mit zehn anderen Ärzten und Ärztinnen fünf HNO-Praxen in Bochum und Witten, zwei der Kolleginnen operierten, „jede Woche 15 Patienten“. „Wir können uns das leisten“, sagt er, „wir als Gemeinschaftspraxis.“ Doch es reiche nicht. Es gebe Patienten, „denen müssen wir wegen der langen Wartezeiten sogar übergangsweise Hörgeräte verschreiben“.

Tillmann ist auch Landesvorsitzender des Berufsverbandes der HNO-Ärzte in Westfalen, 370 niedergelassene Kollegen zählt man hier, erläutert er. Bis vor ein, zwei Jahren operierten noch knapp 100 von ihnen, 20 Prozent hätten sich seither aus dem „operativen Geschäft“ zurückgezogen. „Und die fehlen.“ Denn auch die HNO-Kliniken operierten ambulant nur noch ein, zwei Kinder am Tag, „für die lohnt sich das gar nicht mehr, die bekommen ja nicht mehr als wir dafür“.

HNO-Arzt: Es fehlt auch an Belegbetten

Auch Tillmann sagt: Das Operieren rechne sich nicht. Von den gut 100 Euro, die er für einen ambulanten Eingriff erhalte, müsse er ja auch Raummiete und OP-Assistenz bezahlen sowie entsprechendes Instrumentarium vorhalten. „300 Euro plus“, denkt der Wittener Mediziner, müssten die Krankenkassen für eine ambulante HNO-OP zahlen, „damit wir einigermaßen wirtschaftlich arbeiten können“. „Hybrid-DRGs“ könnten zur Lösung beitragen, sagt er. Fallpauschalen, die für bestimmte Eingriffe gezahlt werden, unabhängig davon, ob sie stationär oder ambulant erfolgen.

Entscheidend ist in Tillmann Augen aber nicht die schlechte Honorierung. Es fehle auch an räumlichen Kapazitäten: „Wir verweigern uns ja gar nicht. Wir könnten mehr Kinder operieren. Wir wissen nur nicht: wo?“ Gerade im Ruhrgebiet hätten viele Kliniken – im Vorgriff auf die Krankenhausreform – Belegbetten gekündigt.