Dinslaken. In glamourösen Postings verharmlosen Mütter Alkoholkonsum. Was haben Bedürfnisse und Überforderung damit zu tun? Eine Suchtexpertin erklärt.

  • Ein Sekt auf dem Spielplatz oder Wein am Abend scheint zum Alltag vieler junger Mütter zu gehören.
  • Das suggerieren zumindest Postings unter den Hashtags #winemoms oder #daydrinkingmoms.
  • Eine Suchtexpertin ordnet den Trend ein.

Neben Schnelltests und Mund-Nasen-Schutz brachte die Covid-19-Pandemie ab 2020 auch #winemoms und #daydrinkingmoms aufs Programm – Weinmütter oder tagsüber trinkende Mütter. Unter den Hashtags versammeln sich in den sozialen Medien junge Mütter, die Gläser mit Wein oder Sekt für die Kamera in Szene setzen. Zwar scheint die überwiegende Anzahl der Urheberinnen aus den Vereinigten Staaten zu stammen, dennoch findet man dieses Phänomen auch in Deutschland.

Was nach einem harmlosen Lifestyle-Trend klingen mag, reicht tiefer. Der Spruch „They whine, I wine“, der viele der Videos mit alkoholischen Getränken ziert, spricht für die Überforderung der Mütter. Übersetzt meint er: Sie weinen, ich trinke Wein. Das klingt weniger nach einer sorglosen Nachmittagsaktivität als viel mehr nach einem Mittel zum Abschalten. Zwar lässt sich das Schlagwort der Weinmütter schon weit früher als 2020 verorten, dass es jedoch während der Pandemie populär wurde, wird kaum ein Zufall sein.

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Zu einer Zeit, in der Eltern Homeschooling und Homeoffice miteinander vereinen mussten und kaum einen Moment für sich hatten, schien Überforderung vorprogrammiert. Eine bundesweite Elternbefragung der Universität Koblenz-Landau zeigt, dass mit 81 Prozent deutlich häufiger Mütter als Väter für die Betreuung im Homeschooling zuständig waren.

Alkoholismus: Überforderung als Ursache

Vera Kufferath ist ausgebildete Suchtkrankenhelferin und Gruppenleitung. Im Verein „Frauen für ein suchtfreies Leben“ leitet sie vier Selbsthilfegruppen. Auch in ihren Gruppen nimmt die Anzahl von Müttern um die 30 Jahre seit vier bis fünf Jahren zu. Aus den Gesprächen könne Kufferath keine direkte Verbindung zur Pandemie ziehen. Sie weiß jedoch: „Überforderung, mangelnde Anerkennung und fehlende Selbstverwirklichung liegen der Sucht häufig zugrunde.“

Vera Kufferath
Vera Kufferath leitet Selbsthilfegruppen beim Verein „Frauen für ein suchtfreies Leben“. Als Suchtkrankenhelferin kennt sie sich mit Alkoholismus aus. © Vera Kufferath | Vera Kufferath

Wine Moms: Häufig mangelt es an Bedürfnisorientierung

Sei eines der fünf Grundbedürfnisse – also physiologische Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen oder die psychologischen Bedürfnisse der Anerkennung, Zugehörigkeit, Selbstverwirklichung und Sicherheit – nicht erfüllt, suche sich der Mensch zwecks Überlebenswille einen Ausgleich.

„In meinen Gruppen sind es meist keine physiologischen Bedürfnisse, an deren Erfüllung es mangelt“, sagt Kufferath. Stattdessen hätten die Frauen bei „Frauen für ein suchtfreies Leben“ Anerkennung, Zugehörigkeit, Selbstverwirklichung oder Sicherheit entbehren müssen. Um die entstehende Unzufriedenheit zu kompensieren, griffen sie zum Alkohol.

Menschen nehmen alkoholtrinkende Frauen negativer wahr als Männer

Die Sucht fange für gewöhnlich schleichend an. So verschafft das Glas Wein am Abend eine erste Abhilfe, dann werden daraus zwei, bald eine ganze Flasche: „Betroffene bauen schnell eine Toleranz für den Suchtstoff auf. Dann reicht die ursprüngliche Menge nicht mehr, um den gewünschten Effekt zu erzielen und es muss mehr her.“ Ein Suchtproblem entsteht laut Kufferath dann, wenn die jungen Mütter regelmäßig bewusst Alkohol trinken, um ihren Zustand zu verändern.

Bei Frauen finde der Alkoholismus charakteristisch eher im Verborgenen statt. Die Suchtkrankenhelferin erklärt das so: „Wenn ein Mann beim Schützenfest an der Bar umkippt, wird am nächsten Tag gesagt: ‚Boah, hast du gesehen, was der verträgt‘.“ Bei Frauen sei das anders, sie gelten schnell als „loses Frauenzimmer, das für jeden Kerl hinterm Zelt die Beine breit macht“.

Was Kufferath im Gespräch salopp umschreibt, beruht tatsächlich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Eine US-amerikanische Studie von 2018 zeigt, dass sowohl Frauen als auch Männer negativer auf eine Frau mit alkoholischem Getränk reagieren als auf eine mit Wasserglas: Frauen, die vermeintlich Alkohol tranken, schrieben sie mangelnde Selbstbeherrschung zu und hielten sie für sexuell verfügbar. Bei der Betrachtung von Männern mit Alkohol blieb diese Reaktion aus.

Daydrinking Moms: Ästhetische Posts mit Alibi-Funktion

Die „Weinmütter“ heben sich mit ihren Posts deutlich von der Heimlichkeit und der negativen Außenwahrnehmung ab – sie tragen ihren Alkoholkonsum zwar nach außen, zelebrieren und verharmlosen ihn aber mit ästhetischen sowie vermeintlich lustigen Videos und Hashtags: ein Glas Wein auf einer marmornen Küchenarbeitsplatte, eine Mutter, die einen Strohhalm in eine Flasche Wein steckt, während sie ihrem Mann zuruft, sie trinke nur ein Glas. So wirkt der Sekt am Nachmittag nicht weiter wahllos, der Alkoholkonsum weniger bedenklich.

Kufferath hält das für besonders tückisch: So könnten sich Frauen, die längst im Begriff sind, eine Sucht zu entwickeln, selbst in die Tasche lügen. „Die Posts werden zu einer Alibi-Funktion“, sagt sie. Abhängige Frauen, die solche Videos sehen, könnten denken: So schlimm steht es um mich nicht, ein Glas Wein oder Sekt ist „schick“. Ihnen wird vorgelebt, dass andere Mütter auch trinken und ihr Leben dennoch auf die Reihe kriegen.

Der Weg aus dem Alkoholismus: Frauen müssen ihre Bedürfnisse erkennen

Sobald junge Mütter bemerken, dass sie „kein Problem mit dem Alkohol, aber durchaus ohne“ haben, stellt sich die Frage: Wie kommen sie wieder vom regelmäßigen Alkoholkonsum weg? Kufferath sieht die Lösung des Problems in dessen Ursprung: die nicht-gelebten Bedürfnisse müssten gelebt werden.

Sie rät Betroffenen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und hinzusehen: An welchem Bedürfnis mangelt es ihnen? Ist es die fehlende Anerkennung, so könnten sie diese einfordern, werden sie durch ihre Partnerin oder ihren Partner eingeschränkt, so sollten sie ihre Freiheit zurück erlangen. „Man muss sich ganz behutsam Wege suchen, Grenzen setzen, Wünsche kommunizieren“, sagt Kufferath.

Im Fall einer Abhängigkeit kann und sollte dieser Prozess nicht allein stattfinden. Kufferath rät zu einer Psychotherapie, um zunächst in die Abstinenz zu kommen. Für die Zeit danach könne eine Selbsthilfegruppe als begleitende Unterstützung helfen. In Dinslaken, Duisburg, Oberhausen, Neukirchen-Vluyn und Wesel bietet der Verein „Frauen für ein suchtfreies Leben“ solche Gesprächskreise an.

Sie sind abhängig oder kennen Sie jemanden, der suchtkrank ist und brauchen Hilfe? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat unter der Rufnummer 0180 631 30 31 (0,20 € pro Anruf) eine Sucht- und Drogenhotline täglich von 08.00 bis 24.00 Uhr eingerichtet.