Ruhrgebiet/Köln/Amsterdam. „Sie bedrohen deine Freunde, deinen Neffen, deine Oma“: NRW-Ermittler sehen bei Drogenkrieg neue Dimension. Das sind die Hintergründe.

Die Geiselnahme von Bochum, Explosionen in Duisburg, Düsseldorf und Köln, der Sprengstoff-Anschlag von Solingen: Ermittler sehen einen Zusammenhang dieser jüngsten Straftaten in NRW mit niederländischen Drogenbanden. Ist die berüchtigte und hochgefährliche „Mocro Mafia“ in Deutschland angekommen? So „einfach“, wie das Wort klingt, ist die Sache nicht.

Der Streit, mit dem alles so richtig begann, liegt zwölf Jahre zurück, er tobt bis heute in den Niederlanden und Belgien. Und hat frappierende Ähnlichkeit mit dem, was sich derzeit in NRW abspielt. 2012 begann bei den Nachbarn im Westen ein Drogenkrieg zwischen rivalisierenden Banden, weil eine Lieferung Kokain im Hafen von Antwerpen erwartet wurde – und nie ankam. 2024 verschwanden offenbar 300 Kilogramm Marihuana aus einer Lagerhalle bei Köln. Und, wie es aussieht, versuchen die Händler aus den Niederlanden, ihr Eigentum im Millionenwert nun wieder einzutreiben.

Kölns Kripochef spricht von „einer neuen Dimension der Gewalt“

Übernehmen die Mafiosi von nebenan nun auch die Unterwelt im Nachbarland? Kölns Kripochef Michael Esser sprach im Kölner Stadtanzeiger besorgt von „einer neuen Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität, die es so hier in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben hat“. Von „Kriegserklärung“ sprechen Ermittler aus dem Landeskriminalamt. „Das ist mehr als ein Disput.“

In den Niederlanden war der Fall von 2012 nach langen Jahren des Cannabishandels Auslöser für den sogenannten „Mocro-Krieg“; seither folgten Auftrags- und Rachemorde, mehr als 70 Tote wurden gezählt, viele unbeteiligt. Und immer ging es um Drogen. Über den Hafen von Rotterdam kommt jährlich Kokain tonnenweise nach Europa. Erst kürzlich verkündeten Düsseldorfer Fahnder, sie hätten mehr als 35 Tonnen in neun Seecontainern sichergestellt – acht davon in dem holländischen Seehafen. Dagegen sind 500 Kilo in Marmeladenfässern, die sie dort vor einem halben Jahr entdeckten, fast nichts.

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Auch Ex-Ministerpräsident Mark Rutte und Kronprinzessin Amalia wurden bedroht

Die großen Drogenbanden werden zu großen Teilen von Männern marokkanischer Herkunft geführt, oft aus der dritten Generation von Einwandern. „Mocro“ ist ein niederländisches Slangwort für sie, in Zusammenhang mit der Mafia wird er aber im Nachbarland kaum mehr gebraucht. Seit es einen Roman über die „Mocro Maffia“ (im Niederländischen mit zwei f) gab und eine TV-Serie, hat der Begriff seinen Schrecken verloren und etwas Boulevardeskes angenommen. Und die Kriminalität hat sich verändert, es agiert nicht mehr „nur“ diese Mafia.

In den alten Netzwerken sind auch gebürtige Niederländer oder Nachfahren aus den alten Kolonien des Landes wie den Antillen aktiv. Oft arbeiten unterschiedliche Banden zusammen, liefern sich aber in Streitfällen blutige Auseinandersetzungen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sagt Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Oder sie richten sich gegen diejenigen, die darüber berichten: Ein Brandanschlag 2018 auf das Redaktionsgebäude des „Telegraaf“ in Amsterdam soll in Zusammenhang stehen mit der Berichterstattung der Zeitung über Kriminelle. Auch Ex-Ministerpräsident Mark Rutte und Kronprinzessin Amalia wurden bedroht: Ihr Traum von einem Studentenleben in Amsterdam platzte, die 20-Jährige wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern.

Wurde bedroht: Prinzessin Amalia der Niederlande, aufgenommen bei einem Fototermin der Königsfamilie im Palast Huis ten Bosch.
Wurde bedroht: Prinzessin Amalia der Niederlande, aufgenommen bei einem Fototermin der Königsfamilie im Palast Huis ten Bosch. © dpa | Patrick van Katwijk

Internationale Aufmerksamkeit erregten die mafiösen Strukturen zuletzt 2021, als der Kriminalreporter Peter R. de Vries im Juli nach einer Fernsehaufnahme mitten in Amsterdam niedergeschossen wurde. Der vorläufige Tiefpunkt in der Sache „Marengo“, ein zufällig ausgewählter Begriff für das größte Gerichtsverfahren, das die Niederlande je gesehen haben. 17 „Drogenbarone“ mussten sich verantworten, Hauptangeklagter: Ridouan Taghi, Spitzname „De Kleine“, Kopf einer der Banden und für Niederländer der „größte Kriminelle“ ihres Landes.

De Vries galt als Vertrauensperson des Kronzeugen Nabil B., hatte zwischen ihm und der Justiz eine Mittlerrolle. Zwei Jahre zuvor waren bereits der Anwalt B.‘s und sein völlig unbeteiligter Bruder ermordet worden. „Erschossen“, sagt Kripo-Experte Oliver Huth in Düsseldorf entsetzt, „weil sie ihren Beruf ausübten, nicht weil sie kriminell waren.“ Das unterwandere die Zivilgesellschaft und gefährde die Demokratie.

Der Mord am Journalisten Peter de Vries

Taghi soll den Mord an de Vries in Auftrag gegeben, einen Killer bezahlt haben. Nachweisen konnte man ihm diese Tat nicht, trotzdem bekam der 46-Jährige für andere Mordtaten „lebenslang“. Der Prozess endete vor wenigen Wochen mit Haftstrafen von bis zu 29 Jahren auch für die anderen Angeklagten. Strafverteidiger standen unter höchstem Polizeischutz, der Vorsitzende Richter am Amsterdamer Gericht darf aus Sicherheitsgründen weder benannt noch gezeigt werden. In seinem Urteil sprach er von „rücksichtsloser, zerstörerischer Gewalt“. Einer „Welt, in der ein Menschenleben keinen Wert hat“ und von einem „Klima der Angst“.

Er wurde getötet: der niederländische Journalist Peter R. de Vries.
Er wurde getötet: der niederländische Journalist Peter R. de Vries. © AFP | Remko De Waal

Das hat viele Niederländer in der Tat erfasst, aber das hat auch andere Gründe: Denn zeitgleich mit den Mafiamorden schwappte aus Belgien eine nicht gekannte Form von Kriminalität ins Land. Es geht dabei ebenfalls um gestohlene Drogen, offene Geldzahlungen. Die scheinbar neue Methode des Eintreibens und der Drohungen: Explosionen – wie nun in NRW. Zunächst in Rotterdam, später in Amsterdam, inzwischen im ganzen Land, meist durch selbstgebauten Bomben aus Feuerwerk. 2023 gab es so viele wie noch nie zuvor, jeden Monat stieg die Zahl: Mehr als 600 zählte die „Politie“, davon knapp 380 in Wohngebieten. „Eine neue Art, Konflikte auszufechten“, sagt Chiel Timmermans, Kriminalreporter des Algemeen Dagblad, im Gespräch mit dieser Zeitung.

Entführungen in Bochum und Köln: Filmchen mit nackten Geiseln

Die zweite Methode: Entführungen – wie nun in Bochum beziehungsweise Köln. Immer mehr Filmchen tauchen auf, die Geiseln zeigen, oft nackt und gefoltert, um sie zu erniedrigen. Auch das war in Rodenkirchen der Fall. Es gehe darum, sagt Timmermans, sie oder Verwandte dazu zu bringen, zu zahlen oder gestohlenen Stoff zurückzugeben. „Das verbreitet sich in der Unterwelt.“ Und hat großen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung: Die „entsetzliche Gewalttätigkeit“, so der Reporter, passiere nicht mehr nur in dunklen Kanälen und unter Kriminellen, sie sei nicht mehr unsichtbar. „Sie passiert, wo die Menschen leben. Explosionen können vor deiner Haustür stattfinden, oder das Haus, in dem du wohnst, kann beschossen werden.“ In den Straßen von Wohngebieten, in Mietshäusern, „bei denen, die nichts damit zu tun haben: Sie bedrohen deine Freunde, deinen Neffen, deine Oma“.

Nach einem Rekord-Kokainfund sichern Polizisten einen Lastwagen mit sichergestelltem Kokain.
Nach einem Rekord-Kokainfund sichern Polizisten einen Lastwagen mit sichergestelltem Kokain. © dpa | ---

Diese Methoden – Kidnapping, Erpressung, Explosionen vor Wohnhäusern als „Warnschüsse“ – haben mit der Serie von Straftaten in den vergangenen beiden Wochen möglicherweise auch NRW erreicht. Von jenem Freitagabend während des Deutschlandspiels gegen Spanien, als die Polizei zwei Bochumer aus der Villa in Köln befreite, wird von massiver Gewalt, schweren Schusswaffen und Rücksichtslosigkeit berichtet. Die Opfer werden dem libanesischen Al-Zein-Clan zugerechnet. Ob dieser der Gegenspieler der Niederländer auf deutscher Seite ist, sagt die Polizei offiziell noch nicht.

„Das sind Vollprofis, keine Amateure“

Die Taten im Rheinland und im Ruhrgebiet müssen jedenfalls gut geplant worden sein. „Das sind Vollprofis, keine Amateure“, sagt Kripomann Huth, Experte für Organisierte Kriminalität. Dass Drogenhändler ihre Geschäfte auch in Deutschland machen, beschäftige die deutsche Polizei schon lange. „Aber wenn die jetzt auch hier ihren Werkzeugkasten auspacken...“ Für Huth hat die zunehmende Drogenkriminalität auch etwas mit dem neuen Cannabis-Gesetz zu tun: „Das ist der Beipackzettel der Legalisierung, dass hier Türen wegfliegen.“ Denn klar sei: „Wenn Rauschgiftgeschäfte schiefgehen, lassen die sich das nicht gefallen.“ Es geht um Geld, „und wenn die in NRW merken, dass es einfach ist, Leute einzuschüchtern, machen die das jetzt immer so. Dann knallt es hier wieder“.

Die niederländischen Gewaltmethoden seien, sagt Huth, trotz aller grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in NRW neu. „Das geht in die Kriminalgeschichte ein.“

INFO: GELDAUTOMATEN-SPRENGER AUS DEN NIEDERLANDEN
In NRW arbeiten Polizei und Staatsanwaltschaften schon lange mit den Kollegen im Nachbarland zusammen. Auch übrigens in Sachen Geldautomaten-Sprenger. Die heißen in den Niederlanden „plofkrakers“, ihre Banden werden wohl auch von Marokkanern beherrscht, allerdings vor allem aus dem Raum Utrecht. Mit einer „Mocro Mafia“ haben sie eher nichts zu tun oder sind allenfalls Geldbeschaffer oder Handlanger.