Mülheim. Was rät Nobelpreisträger Benjamin List jungen Menschen? Wie fühlt es sich an, den Preis zu erhalten? Ein Besuch bei Mülheims Spitzenforscher.
Einen Nobelpreisträger hautnah erleben und viel Spannendes über die Arbeit an Mülheims renommiertem Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenforschung erfahren: Das konnten jetzt auf Einladung dieser Redaktion gut ein Dutzend Leser und Leserinnen. Viveka war eine der jüngsten Teilnehmerinnen. Gerade neun, aber schon ziemlich auf Zack, hörte sie selbst bei der Einführung in die Geheimnisse der asymmetrischen Organokatalyse konzentriert zu. Und wollte am Ende noch unbedingt eines wissen: „Wie fühlt sich das an, einen Nobelpreis zu bekommen?“ Prof. Benjamin List, der das 2021 erlebt hat, grinste und fand einen prima Vergleich: „Wie ein Zeugnis mit lauter Einsen.“
Gleich zu Beginn erfahren die Gäste, wofür List die Ehre zuteil geworden ist. Einer seiner Doktoranden, Benjamin Mitschke, führt im Hörsaal in die Molekülchemie ein, erklärt anschaulich sperrige Begriffe wie Katalyse und Chiralität. Die Teilnehmer sind dankbar für die Chemie-Vorlesung im Miniaturformat: „Er hat das ganz wunderbar heruntergebrochen“, so Teilnehmerin Beate Röcker (63).
Laut Mülheimer Chemiker sind „85 Prozent aller industriellen Prozesse katalysiert“
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Bei „rund 85 Prozent aller industriellen Prozesse“ spielt die Katalyse eine Rolle, berichtet Mitschke. Sein Chef bezeichne sie daher gern als „wahrscheinlich wichtigste Technologie, die die Menschheit entwickelt hat“. Schon vor List sind etliche Forscher für Erkenntnisse rund um das Thema mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden, „angefangen mit Wilhelm Ostwald 1909“.
Ben List und der mit ihm zusammen geehrte David MacMillan fanden heraus, dass Katalyse auch mit einfachen organischen Molekülen klappt und es dafür – entgegen langjähriger Meinung anderer Chemiker – keiner Metalle bedarf. Eine Wahnsinnsentdeckung: „Denn zum einen sind organische Moleküle total unschädlich und zum anderen deutlich kostengünstiger“, so Mitschke. Wer bei der Katalyse Metalle wie Palladium, Iridium oder Rhodium verwende, müsse mit Kosten jenseits der 100.000 Euro rechnen. Das organische Prolin, das List als geeignet ausgemacht hat, koste im Vergleich dazu gerade 40 Euro.
Zwischen den beiden Top-Forschern entwickelte sich „ein sportliches Wetteifern“
„Unabhängig voneinander“ hätten MacMillan und List die Idee vorangetrieben. Bei einem Vortrag in Kalifornien seien sie sich begegnet und hätten erkannt, dass auch der jeweils andere auf dem Gebiet forscht. Danach hätten sie Tempo aufgenommen, damit nicht eines Tages allein der Konkurrent als Entdecker gefeiert wird. Laut Mitschke entwickelte sich „ein sportliches Wetteifern“.
Letztlich gewannen beide. Und erhielten dafür nicht nur den berühmtesten Wissenschaftspreis der Welt, sondern auch eine Million Euro. Der 55-Jährige erwähnt beim Rundgang noch eine andere Zahl: Sein schottischer Kollege habe den Anruf des Nobelkomitees zunächst für einen Scherz gehalten und 1000 Dollar darauf gewettet, dass es ein Streich war. List aber hielt dagegen: „Ich habe das schon für authentisch gehalten – auch wenn ich dann schon noch mal kurz ins Grübeln gekommen bin. . .“ MacMillan also musste zahlen, trotz einiger Witze über die angeblich so geizigen Schotten. Bar auf die Hand gab’s das Geld. List gab es postwendend zurück: „für seine Stiftung für unterprivilegierte Schüler“.
Lists Botschaft: „Folgt immer eurer Leidenschaft. Macht das, was euch Spaß macht“
Ausbildung ist dem Chef eines Teams von rund 50 Mitarbeitern wichtig, das spüren die Besucher. Den Jüngeren rät er: „Folgt eurer Leidenschaft. Macht das, was euch Spaß macht. Und haltet durch, selbst wenn sich das einsam anfühlt.“ Als ihm die Idee von der organischen Katalyse gekommen sei, habe er lang allein dagestanden, „alle dachten ja, Katalyse funktioniert nur mit Metallen“. Er habe schlaflose Nächte gehabt, und trotzdem weitergemacht. Heute wisse er: „Eine revolutionäre Idee muss sich anfangs einsam anfühlen.“
List stattet seine Besucher mit Wissen und Anekdoten aus, mit Nobelpreis-Medaillen aus Schokolade und Autogrammkarten. Auch zum Selfie stellt er sich bereitwillig auf. Viveka hat prompt noch eine schlaue Frage in petto: „Sind Ihre Ideen schon mal geklaut worden?“ List ist beeindruckt und räumt ein: „Ja, das ist mir schon passiert. Durch einen berüchtigten Kollegen aus Schweden.“ Dieser habe mal im Publikum gesessen, als er einen Vortrag gehalten und dabei auch eine Sache erwähnt habe, die damals noch nicht veröffentlicht worden war.
Ideen-Diebe können nicht belangt werden – „ethisch in Ordnung ist ihr Verhalten nicht“
Er sei „aufgeregt gewesen wegen der Entdeckung“, so List, und habe deshalb schon vor der angedachten Publikation gewagt, etwas zu verraten. Besagter Kollege habe das Potenzial erkannt, und versucht, ihm zuvorzukommen: „Letztlich sind wir dann fast zeitgleich damit rausgekommen. Es war aber klar, dass die Idee von mir stammte.“ Auch wenn es ethisch sicher nicht in Ordnung sei, könne man solche Ideen-Diebe nicht belangen: „Es gibt kein Gesetz, das das verbietet.“ Zum Glück seien die meisten Wissenschaftler „ehrenwerte Leute“.
Auch Karl Ziegler, Mülheims erster Nobelpreisträger, hatte einst eine revolutionäre Idee, um die ihn viele beneidet haben dürften. Von Christoph Kießling, Leiter des historischen Archivs, erfahren die Gäste, dass Ziegler quasi der Vater der modernen Kunststoffherstellung ist, und allein die Patenteinnahmen aus seiner Erfindung mehr als eine Milliarde Euro in die MPI-Kasse gespült haben. Mit solchen Summen dürfe man nach Nobelpreis Nummer zwei nicht rechnen. Doch auch er habe „den Ehrgeiz, einiges an Patenteinnahmen fürs Institut zu generieren“, verspricht Ben List.
Der riesige Erfolg einerseits, der nahbare Wissenschaftler andererseits: Besucher Axel Jötten hat die Begegnung beeindruckt: „Es war sehr interessant. Und es ist bemerkenswert, dass Ben List ein so normaler Mensch geblieben ist.“