Mülheim. Wenn Mütter in der Schwangerschaft Alkohol trinken, kann das dem Kind schaden. Jessica (33) ist betroffen, will eine Selbsthilfegruppe gründen.
Schon als Baby kam sie zu Adoptiveltern. Jessica und ihre zwei Geschwister lebten damals im Heim, weil ihre leiblichen Eltern beide alkoholabhängig waren. An den Folgen leidet die 33-Jährige bis heute. Weil ihre leibliche Mutter in der Schwangerschaft trank, schädigte sie ihr Ungeborenes. Das führte zu gesundheitlichen Problemen beim Kind, die lange nicht diagnostiziert wurden. Erkannt wurden die Fetalen Alkoholspektrumstörungen erst, als Jessica Brinks schon fast erwachsen war. Nun will sie eine Selbsthilfegruppe ins Leben rufen.
„Meine Adoptiveltern haben nie aufgegeben, nachzuforschen, warum ich anders als andere Kinder war. Ich war hibbelig, aggressiv, hatte eine Rechenschwäche – vor allem aber konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. In der Schule lief es schlecht. Mit sechs Jahren wurde ADHS bei mir festgestellt, aber das war nicht alles. Meine Eltern fragten sich, warum ich keinen Schulabschluss schaffte, keine Ausbildung beginnen konnte.“ Durch einen Fernsehbericht wurde die Broicher Familie dann vor rund 15 Jahren auf die Fetalen Alkoholspektrumstörungen aufmerksam – und auf einen Professor von der Charité in Berlin, der zu dem Thema forschte und Betroffene untersuchte.
Merkmale im Gesicht führen zu Verdacht
„Wir haben uns um einen Termin bemüht, mein Vater ist mit mir nach Berlin gefahren. Schon anhand eines Kinderfotos von mir, hatte der Arzt die Vermutung geäußert, dass ich durch den Alkoholmissbrauch meiner Mutter in der Schwangerschaft Schäden erlitten hatte“, so Jessica Brinks. Denn: Erfahrene Mediziner können unter anderem an auffälligen Merkmalen im Gesicht, erkennen, ob ein Mädchen oder Junge betroffen ist. „Eine schmale Oberlippe, eine kurze Lidspalte oder auch eine nicht-existente vertikale Rinne zwischen Nase und Oberlippe gehören dazu“, berichtet die 33-Jährige. Es braucht allerdings weitere Merkmale, um den Verdacht zu erhärten: Auffälligkeiten im Zentralen Nervensystem beispielsweise oder auch beim Wachstum.
„Der Arzt in Berlin hat schließlich Fetale Alkoholspektrumstörungen bei mir diagnostiziert. Das hat vieles erklärt, und das war gut. Ich bekam einen Schwerbehinderten-Ausweis, wurde in Pflegestufe 1 eingestuft“, berichtet Jessica. Sie ist aktuell arbeitsunfähig, lebt alleine, kann ihren Haushalt selbst führen – erhält aber nach wie vor Hilfe von ihren Adoptiveltern. Mit 20 bekam die junge Frau selbst einen Sohn. „An die nächste Generation vererbt sich glücklicherweise nichts“, sagt sie. Aber: „Ich hatte immer Angst, meinem Sohn wegen meiner Verfassung nicht genug bieten zu können.“ Ein paar Jahre lang lebte der Junge daher bei den Großeltern, nun zieht er aber wieder bei ihr ein. Ein Hund wohnt mittlerweile auch dort.
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Mülheimerin möchte sich mit anderen Betroffenen austauschen
„Ich habe noch Glück im Unglück gehabt. Ich bin gar nicht so schlimm getroffen wie andere. Viele sind unselbstständiger, brauchen mehr Hilfe“, weiß Jessica Brinks aus Berichten. Sie selbst kennt bislang keinen betroffenen Erwachsenen in Mülheim. Bei einem Klinikaufenthalt habe sie „gelernt, mit der Krankheit umzugehen“, heilbar seien die Störungen nicht. Aber: „Ich würde gerne eine Selbsthilfegruppe gründen, mich mit anderen Betroffenen in Mülheim austauschen, mir Tipps von ihnen holen, wie ich noch besser zurechtkommen kann“, sagt sie. Es gehe ihr mittlerweile „besser als vor zehn Jahren“. Sie konnte den Hauptschulabschluss nachholen und den Führerschein machen. Auf einen Job konzentrieren kann sie sich aber nicht.
Vor dem Alkoholgenuss in der Schwangerschaft warnt Jessica Brinks deshalb eindringlich. Ungeborene von Alkoholkranken seien natürlich ganz besonders gefährdet. Festzustellen bleibe aber auch: „Der Spruch ,Das eine Gläschen macht ja nichts!’ ist definitiv falsch“, sagt sie. Schon geringe Mengen Alkohol könnten die fetalen Spektrumsstörungen beim Kind auslösen. „Muss nicht, kann aber.“