Berlin. Der künstlerische Ausdruck, das Singen, Malen, Tanzen und Musizieren, ist im Menschsein verwurzelt. Doch wie bedeutend ist Kunst für die Psyche?
Wenn Igor Levit in Interviews über Beethovens Waldstein-Sonate spricht, überschlagen sich seine Worte wie die Töne in der Musik selbst. Als „größtes Geschenk“ bezeichnet der Star-Pianist diese Sonate in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk: „Ich kenne keinen Vergleich in Beethovens Klaviermusik, wo körperliches Erleben so zu Musik wird wie das hier.“ Er spricht von diesem besonderen „Herzschlag“, von einem ersten Satz, der in einem „rasenden Puls“ dahineilt. In Levits Worten und in den Vergleichen leuchtet auf, wie sehr Kunst und Menschsein zusammengehören, wie elementar wichtig sie für das menschliche Wohlbefinden ist.
Kunst während der Pandemie: Die Sehnsucht nach der Musik
Das zeigte sich auch im Frühjahr 2020. Als alle Konzertsäle, Theaterbühnen und Ausstellungsräume geschlossen waren, setzte sich Igor Levit in seinem Wohnzimmer an seinen schwarzen Steinway-Flügel und lud die Welt über seinen Twitter-Account ein, ihm zu lauschen. Und es dürstete die Menschen danach. 200.000 Menschen saßen an ihren Endgeräten, als er die Waldstein-Sonate spielte. Es war der Auftakt zu Levits legendären Social-Media-Hauskonzerten. Der Ausnahmepianist setzte damit in einer emotionalen Diskussion ein eindrucksvolles Zeichen: Musik ist systemrelevant.
Levit fand Nachahmer. Der Oboist Albrecht Mayer, der sonst die Säle in New York, Vancouver und Salzburg füllt, zog im Sommer durch Berliner Parks und spielte vor den Menschen, die eben gerade da waren. Die Sehnsucht nach Livemusik und Gemeinschaft war so groß, dass die Menschen sich weltweit zu festen Zeiten auf ihren Balkonen trafen, um gemeinsam zu singen.
Kunst hat Kraft: Was Tanz und Malerei auslösen können
Egal ob Musik, Ballett, ein Gemälde, eine Installation oder eine Theateraufführung – Kunst verbindet die Menschen, mit anderen und mit sich selbst, bringt Verstand, Herz und Körper zusammen. Jeder kennt sie, diese Momente vollkommener Erhabenheit, die im Raum liegen kann, wenn Kunst entsteht. Wenn sich die kognitive, auf dem Verstand beruhende Weltsicht öffnet und Platz macht für Emotionen und große Gefühle, für eine andere Form der Lebendigkeit und Fülle.
„Ich habe festgestellt, dass ich mit Farben und Formen Dinge ausdrücken kann, die ich auf andere Weise nicht sagen könnte“, hat die US-amerikanische Künstlerin Georgia O’Keeffe einmal gesagt, die als eine der einflussreichsten Malerinnen des 20. Jahrhunderts gilt. O’Keeffe wurde für ihre farbenprächtigen Blumenbilder bekannt, die in Wirklichkeit genaue Studien der weiblichen Vulva waren und von den Schriften Sigmund Freuds geprägt waren.
Wenn die Kunst an den Grundfesten unseres Seins rüttelt, wenn sie irritiert, mit Sehgewohnheiten bricht, dann offenbart sich ihre ganze Macht. Die große Choreografin Pina Bausch revolutionierte mit ihrer Kompanie das Tanztheater, irritierte mit Sätzen wie „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“ und mit Aufführungen, die diesem Ansatz folgten. Im Tanztheater Wuppertal wurde gesungen, getanzt, geschauspielert. Ihr ging es nicht um die perfekte Technik, nicht um Dekoratives, um Gefallen, sondern um die machtvollen Gefühle, die tiefen Emotionen, die hinter den Bewegungen standen und irgendwo ganz tief im Inneren ihren Ursprung haben.
Kunst: Liegt sie in den menschlichen Genen?
Woher kommt dieser Drang, sich so auszuleben? Ob in der Musik oder im Tanz oder in der bildenden Kunst? Das sind spannende Fragen für Prof. Eckart Altenmüller, Musiker, Arzt und Forscher auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie von Musikerinnen und Musikern an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover und auf seinem Gebiet eine Koryphäe.
Er sagt: „Wir haben einen genetischen Drang zu Musik.“ Es mag merkwürdig klingen, aber der Mensch konnte singen, bevor er die Sprache lernte. Der Pant-Hoot-Gesang von Schimpansen sei unserem vorsprachlichen Gesang besonders ähnlich. Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass Menschen sich auf solche Weise verständigt haben, wenn es darum ging, sich auf eine bevorstehende Jagd vorzubereiten, die Gruppe zu organisieren, um Freude und Aufregung auszudrücken. Musik liegt also ganz tief in den Menschen.
Auch beim Tanz und in der Bewegung scheint es diese „Urbilder“ zu geben. Die polnisch-amerikanische Psychoanalytikerin Judith S. Kestenberg nimmt an, dass bestimmte Körperrhythmen konkrete Bedürfnisse ausdrücken. Wir würden sie als Kleinkind erwerben und behielten sie unser Leben lang bei. Hüpfrhythmen (Federn) stimulierten Freude. Beim Tanzen in der Disco benutzten wir eine Mischung aus Hüpf- und Wiegerhythmen, beschreibt Kestenberg – und imitierten dabei den Sexualakt.
Malereien von Kindern weltweit: Forscher macht erstaunliche Entdeckung
Dass auch die Malerei tief in uns steckt, hat der in Deutschland geborene und in Frankreich lebende Pädagoge und Forscher Arno Stern über viele Jahrzehnte untersucht. Stern, heute 98 Jahre alt, reiste quer durch die Welt, nach Afghanistan, Neuguinea, in die Anden. Überall ließ er die Menschen malen, einfach so, ohne Vorgaben. Er besuchte Völker, die abseits der industrialisierten Welt lebten, und gab ihnen Stift und Papier. Er machte dabei eine erstaunliche Entdeckung: Überall, in allen Kulturen und zu jeder Zeit malen die Kinder ähnliche Formen und Figuren, als gäbe es einen universellen Code.
Zuerst sind da Punkte, dann Striche, aus denen ein langer senkrechter Strich entsteht, immer und immer wieder, es folgt das Kreuz, schließlich die Grätenfigur, ein Strich mit vielen kleinen senkrechten Strichen darauf, in unzähligen Abwandlungen. Ein anderes Beispiel: die abgerundete Spur, dieses Krickelkrackel, aus dem sich später ein Kreis formt, aus dem die Strahlenfigur erwächst, ein Kreis mit davon abgehenden Linien. Später werden die absichtslos dahingemalten Strahlenfiguren unterschiedlich eingekleidet, als Sonne, Hand, Baum oder Blume.
Sterns erstaunliche Entdeckung legt nahe: Malen ist nicht nur irgendein kindlicher Zeitvertreib. Es gibt einen ganz tiefen menschlichen Drang, sich so auszudrücken, und es gibt bestimmte Symbole, die herauskommen wollen. Aber woher kommen diese Symbole, die so tief in uns stecken und die zu malen offenbar unser ureigenes Bedürfnis ist – unabhängig von Kultur, Status und Persönlichkeit?
Stern sprach mit Embryologen und Hirnforschern und identifizierte eine alle Menschen einende Erfahrung: Jedes Leben beginnt im Mutterleib, jeder Mensch wird geboren. Und so schlussfolgert Stern: Die Bildsprache von Kindern in aller Welt zeichnet die Urformen menschlicher Entwicklung im Mutterleib nach. Diese Bewegungen des Entstehens eines Menschen sind tief in uns gespeichert. Durch das spontane und absichtslose Malen drückt sich ein tiefes Erleben und eine tiefe Verbundenheit damit aus.
Tanzen: Diesen überraschenden Effekt kann die Bewegung haben
Nicht nur die bildende Kunst und das Malen können helfen, einen besseren Zugang zu den eigenen Ressourcen zu bekommen. Die renommierte Psychologin und Tanztherapeutin Prof. Sabine Koch forscht und lehrt an der SRH Hochschule Heidelberg und an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Sie hat mit ihrem Team untersucht, wie sich das Tangotanzen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Parkinsonpatientinnen und -Patienten und an Demenz erkrankten Personen auswirkt.
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Gerade der Tangotanz sei für diese Menschen eine Herausforderung, sagt Koch. Es gebe viele Brüche im Bewegungsablauf, Drehungen, Rückwärtsschritte. All das fällt Menschen mit Parkinson schwer. Und doch meisterten hier viele Erkrankte ebensolche Herausforderungen, vor denen sie im Alltag längst kapituliert haben. Kochs Erklärung: Die Tanzenden müssen sich so stark auf ihre oder ihren Partnerin oder Partner einlassen, dass sie ihre Probleme vergessen. Die Angst hinzufallen, rückt in den Hintergrund, und die Menschen üben Bewegungsabläufe, die sie sonst scheuen. Sie werden besser, sie trainieren gegen die Krankheit an.
Die Forschenden sehen ein besseres Gangbild und eine höhere Balancefähigkeit. Die Menschen werden selbstbewusster, trauen sich, wieder am Leben teilzunehmen. Und es muss nicht gleich Tango sein: Tanzen im Wohnzimmer, in der Küche oder im Club steigert die Stimmung und das Wohlbefinden. „Hauptsache, es wird gewippt und gefedert“, sagt Koch. Dass es besonders die federnden Bewegungen sind, die glücklich machen, haben Koch und ihr Team in einer Studie mit einem israelischen Kreistanz nachgewiesen.
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Forscher: Musizieren stärkt das Gehirn
Der Tanz, die Bewegung, das kann also Körper und Geist massiv beeinflussen. Doch was macht es mit denen, die, oft sitzend, Musik machen? Musikforscher Prof. Altenmüller hat herausgefunden, dass das Gehirn von Musikerinnen und Musikern durchschnittlich vier Jahre jünger ist als das von nicht Musizierenden und extrem leistungsfähig. Musizieren ist eine komplexe Hirnleistung, alle Hirnzentren sind aktiv, dadurch werden Verbindungen zwischen einzelnen Bereichen dicker, Nervenzellen aufgrund von verstärktem Stoffwechsel größer, es kommt zu neuen Vernetzungen. Das Hirn verändert sich durch Musik und kann auch im Alter noch trainiert werden. „Musik ist ein Jungbrunnen“, sagt Altenmüller.
Weil Musik häufig in einer Gruppe gemacht wird, werden laut Altenmüller weitere Eigenschaften wie Altruismus, Hilfsbereitschaft, Emotionalität und Einfühlungsvermögen geschult. Die gute Nachricht für alle Nicht-Musikerinnen und -Musiker: Das Gehirn kann auch im Alter noch trainiert werden – man muss also nicht schon ab dem dritten Lebensjahr am Klavier gesessen haben.
Kunst soll eine heilende Wirkung haben
Kunst und Menschsein gehören zusammen. Kunst machen bringt uns näher zu unserem Kern. Und Kunst kann auch gezielt eingesetzt werden, um die physische und psychische Gesundheit zu verbessern. Das sind also keine gewagten Thesen von Akteuren aus der Kunstszene, es gibt dafür zahlreiche wissenschaftliche Studien.
Wie sehr das Thema auf den höchsten Ebenen diskutiert wird, zeigte eine Veranstaltung, die das Metropolitan Museum of Art in New York und die Weltgesundheitsorganisation ins Leben gerufen haben. Beim Healing Arts Symposium traf ein internationales Panel mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern und Politikerinnen und Politikern aus aller Welt zusammen. Die Konklusion: Künste sind eine wichtige Investition in die körperliche, geistige und soziale Gesundheit.
Beim Symposium in New York war ein Paradoxon offenkundig: In diesem Jahr, 2021, mitten in der Pandemie, war die Kunst an den Rand gedrängt. Und doch lag für die Teilnehmenden auf der Hand, dass gerade bei den steigenden Gesundheitskosten die Kunst eine günstige Ergänzung zu oft teuren klassischen Behandlungen ist. Was also tun? „Wir müssen nicht nur Thesen beweisen – wir müssen Geschichten erzählen, um die Politik zu überzeugen“, sagte Prof. Joke Bradt in New York, die Professorin für kreative Kunsttherapien im Department Krankenpflege und Gesundheitsberufe an der Drexel-Universität in Philadelphia ist.
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Mentale Gesundheit: Therapie im Museum?
Geschichten über die heilende Kraft der Kunst kann auch Hanna Moritz erzählen. Sie hat an der renommierten Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Heute arbeitet sie als Coachin. Manchmal, so erzählt sie, da lande eine Sitzung in der Sackgasse, es gehe irgendwie einfach nicht weiter. Alle Probleme lägen auf dem Tisch, seien durchgekaut und intellektuell erschlossen, aber trotzdem bewege sich nichts mehr. Dann hat Moritz einen Ausweg: Sie geht ins Museum, schaut sich mit ihren Klientinnen und Klienten zeitgenössische Kunst an und lässt die Bilder für sich arbeiten.
Sie erinnert sich an einen Klienten, der im Museum Ludwig in Köln vor den blauen Bildern des Franzosen Yves Klein stehen blieb. Er hielt inne, stand regungslos da, versenkte sich in das monochrome, tiefe Blau auf der Leinwand. In diesem Moment wurde der Klient seines tiefen Bedürfnisses nach Ruhe gewahr. „Warum diese Sehnsucht nach Stille?“, fragte Moritz. Er sei überfordert, vor allem im Job, im Alltag, überall habe er Entscheidungsschwierigkeiten. Moritz forderte ihn auf, dieses Bild und diesen Wunsch nach Ruhe vor seinem inneren Auge zu ankern, das Gefühl zu speichern. Gemeinsam schufen sie so einen mentalen Rückzugsort, einen gedanklichen Ruheraum für turbulente Zeiten.
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„Das Coaching im Museum öffnet den Gesprächsraum“, sagt Hanna Moritz. „Kunst kann helfen, Emotionen und Intuition stärker mit in die Aufarbeitung einzubeziehen, den Menschen in seiner Gänze mitzunehmen.“ Wer das heute als Erwachsener liest, kann sich trösten. Auch wer noch nicht im Wochentakt tanzt oder seit Jahren Instrumente spielt, nicht oft im Museum ist und Bach meist nur in der Weihnachtsmesse hört: Bei der heilenden Wirkung von Kunst geht es nicht um Können. Wir müssen uns nur darauf einlassen, Gefühle zulassen und Kunst, Körper und Geist ihre gemeinsame Arbeit machen lassen.