Essen. Der Essener Fotograf Andreas Teichmann legt einen besonderen Bildband vor. 16 Porträts erzählen von einem Job und dem Umgang mit dem Tod.
Rebecca ist Mitte 20. Ein Porträt zeigt eine moderne junge Frau mit runder Brille, Lockenkopf, Nasenpiercing, im Gesicht ein zuversichtliches Lächeln. Wenn wir umblättern, sehen wir sie am Spiegel: Vor der Trauerfeier kontrolliert sie ihren Krawattenknoten. Dann die Beisetzung. Ein Grabfeld. Angehörige halten sich aneinander fest. Im Hintergrund stehen Sargträger mit gesenktem Blick und Mundschutz Spalier, daneben Rebecca – das war in der Corona-Zeit. Der Fotograf Andreas Teichmann ist damals nah herangekommen an das herbstliche Begräbnis in Wanne-Süd, trotzdem wahrte er Abstand. Eine Sache des Respekts.
Schließlich geht es um den Tod. Oder vielmehr um den Umgang damit. Drei Jahre hat der gebürtige Essener und Folkwang-Absolvent junge Bestatterinnen und Bestatter begleitet, das Ergebnis liegt jetzt in gebundener Form vor: Der Bildband „Memento Mori 4.0“ erzählt von Rebecca und Kollegen in ganz Deutschland, von ihrer Arbeit, ihrem Alltag, ihren Gefühlen. Aber vor allem erzählt er von jeder Menge Professionalität und Disziplin in einem Job, der am Ende doch eine Dienstleistung ist. „Privat bin ich das größte emotionale Wrack, da fange ich bei Disney-Filmen an zu weinen“, gesteht Linda, die der Fotograf auf Usedom besucht hat: „Aber auf der Arbeit ist das anders.“
„Memento Mori 4.0“: Andreas Teichmann stellt neun Frauen und sieben Männer vor
Menschen und ihre Geschichten haben Andreas Teichmann schon immer interessiert. Er hat für Spiegel, Stern und Geo fotografiert, bis er sich 2017 selbständig macht. Seither verwirklicht er eigene Projekte. Für das Buch „Durch Deutschland“ ist er zweimal zu Fuß durchs Land gelaufen, 960 Kilometer von Aachen nach Zittau und 1250 Kilometer von Oberstdorf nach Sylt. Unterwegs hat er Zufallsbekanntschaften porträtiert. Für „Der Mensch bleibt ein soziales Wesen“ begleitete er die Corona-Zeit mit der Kamera. Er hielt die erste digitale Ostermesse fest, Hochzeiten mit Mundschutz und Eltern auf dem Krankenhausparkplatz, wo der Vater sein Kind zum ersten Mal gesehen hat.
Damals lernte er bei einer Beerdigung einen jungen Bestatter kennen. Die Idee war geboren. „Ich habe gedacht: Meine Güte, ist der lebensweise!“, erinnert sich Teichmann. Er geriet ins Grübeln. Ist jemand aus Veranlagung so? Oder prägt die Beschäftigung mit dem Tod den Charakter? Fragen, die ihn nicht mehr losließen. Bis zu 20 Bestatter pro Bundesland schrieb er an. Von 60 Prozent kam keine Antwort. Bei allen anderen hat er nachgefragt, ob er sie begleiten darf. Vier bis fünf Tage brauche er. Und – unbegrenzten Zugang.
Am Ende blieben 16 übrig, neun Frauen, sieben Männer. Die Hälfte arbeitet im Familienbetrieb, zum Teil bis in die siebte Generation. Die andere Hälfte ist angestellt. So reiste Teichmann wieder durch Deutschland: „Ich wollte erfahren, ob Unterschiede bestehen, von Region zu Region, von Dorf zu Stadt.“ Jetzt weiß er etwa, dass das Ausheben eines Grabes auf Usedom eine Kunst für sich ist, weil der Boden so sandig ist. Oder dass im Rheinland die Handschuhe der Sargträger ins Grab gelegt werden. „Was an einem Ort üblich ist, gilt an einem anderen als Tabu.“ Er hat im Frühjahr fotografiert, im Sommer, Herbst und Winter. „Es ging mir um die Diversität – der Menschen, Bestattungskulturen und Jahreszeiten.“
„Der schönste Beruf der Welt“
„Memento Mori 4.0“: Social Media wird auch bei Bestattungen immer wichtiger
Die jüngste Gesprächspartnerin war damals 17, die älteste 32. Eine Lebensphase, die man normalerweise eher auf Festivals verbringt als auf dem Friedhof. Und trotzdem hat der Autor bei allen eine große Zufriedenheit ausgemacht, die Zoe aus dem Saarland, Anfang 20, vielleicht am besten zum Ausdruck bringt: „Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen. Ich habe den schönsten Beruf der Welt.“ Teichmann erzählt auch von Luis, Influencer aus Mittelfranken. Er präsentiert seinen Job auf TikTok und erreicht damit 1,2 Millionen (!) Follower. „Social-Media-Präsenz“, erfuhr der Fotograf, „gewinnt auch hier immer mehr an Bedeutung.“
Er zeigt Bilder, die man in dieser Intensität noch nicht gesehen hat. Ungewöhnliche Blickwinkel. Alltag in Büros und Kühlkammern. Mittagspause in einem Trauercafé. Detailaufnahmen wie eine Deutschlandkarte mit 100 bunten Fähnchen, Orte für die Abholungen des Tages. Verschiedene Ligaturnadeln zum Verschließen des Mundes eines Toten. Ein Behälter mit dem Jahresvorrat Weihwasser im Aufenthaltsraum des Pfarrers. Ein Sarg, der bei einer Feuerbestattung in den Ofen fährt.
Es gibt Fotografien, die an die Nieren gehen, wie die einer jungen Frau beim Ankleiden einer Leiche. Und stillschöne Aufnahmen wie das Meer bei einem Seebegräbnis; noch treibt die Urne auf dem Wasser. Andere kommen mit einem Augenzwinkern daher. Eine Frau wäscht ganz in Schwarz mit einem Schlauch den Leichenwagen, das ist Emily, Jahrgang 2000, damals Deutschlands jüngste Bestatterin. Eine Kollegin kürzt den Rückweg vom Friedhof sportlich über eine Mauer ab. Und dann ist da noch Svenja, die eine Ausbildung zur Bestattungsfachkraft macht. Sie schreddert alte Unterlagen. Die Papierwolle kann man nachhaltig verwenden, als Füllmaterial für eine Sargmatratze, erfuhr Teichmann: „Mich haben Blicke hinter die Kulissen interessiert.“
„Memento Mori 4.0“: Andreas Teichmann aus Essen stellt junge Bestatterinnen und Bestatter vor
Dabei geht er stets diskret ans Werk. Er lässt die Bilder sprechen. Nur ein Zitat pro Porträt hat er ausgewählt, alle übrigen unter drei Aspekten gebündelt. Wie war es? Wie ist es? Und wie wird es werden?
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Dahinter verbergen sich Beweggründe („Früher wollte ich Hochzeitsplanerin oder Floristin werden. Ich wollte Kunst studieren. Ich wollte Poetry-Slammerin werden. Ich glaube, alles, was ein bisschen kreativ war, wollte ich gerne machen. Dann habe ich festgestellt, dass dieser Job eigentlich alles vereint.“), aber auch Pragmatismus („Ein Bestatter ist ein Eventmanager für den Tod“) und eine in jungen Jahren ungewöhnliche Reife: „An sich heranlassen, dass das eigene Leben endlich ist und dass die Menschen im eigenen Leben sterben werden, tun die wenigsten. Das wird in Deutschland sehr verdrängt“, heißt es in einem Interview. „Ich lebe auf jeden Fall bewusster“, in einem anderen, „einfach, weil ich sehe, wie schnell das Leben vorbei sein kann.“
Andreas Teichmann: „Momento Mori 4.0. Die neue Generation der Bestatter*Innen“. Fotografie. Kettler-Verlag, 192 Seiten, 69 Euro. Derzeit ist die erste Auflage vergriffen, es gibt aber noch Bücher beim Autor. Kontakt: info@andreasteichmann.de