Essen. Die heutigen Krisen machen vielen zu schaffen. Suchen psychisch Angeschlagene nach einem Therapieplatz, müssen sie sich oft gedulden.

Wartezeit zwei Jahre, Wartezeit mindestens 18 Monate, oder „Wir führen gar keine Warteliste mehr“. Wer dringend einen Therapeuten braucht, hat in Deutschland schlechte Karten. „Wir nehmen nur Selbstzahler“, „Ich behandle lediglich queere Personen“, „Meine Praxis ist vorläufig wegen Elternzeit geschlossen“: Was Anna Schuster (Name geändert) sich so alles anhört, wenn sie die Psychotherapeuten in ihrer Stadt abtelefoniert, muntert sie eher wenig auf. Ein Mensch geht eigentlich nie ans Praxistelefon, fast immer erzählt einem der Anrufbeantworter irgendwas. Dafür braucht man gute Nerven. Die hat Anna aber gerade nicht.

Eine Depression kann es bei Anna sein, die ihr seit einigen Monaten ihre Lebenslust und Energie raubt und sie schlecht schlafen lässt. Darauf weisen zunächst Selbsttests im Internet hin, und das vermutet auch ihre Hausärztin. Damit ist die 36-Jährige wahrlich nicht alleine, auch wenn es sich für sie so anfühlt. Seit langem steigt die Zahl psychisch angeschlagener und kranker Menschen stark an. Das war schon vor Corona, dem Krieg in der Ukraine und dem Krieg in Israel so, schon vor der Wirtschaftskrise, schon vor dem dramatischen Anwachsen des Rechtspopulismus und -extremismus. Aber seitdem ist es noch heftiger. Viele Menschen belastet der bedrückende Mischmasch aus all diesem sehr.

Anna erzählt: „Meine Hausärztin hat mir zwar eine Überweisung zum Psychotherapeuten ausgestellt, aber es ist ja nicht so, dass die sich um neue Patienten reißen.“ Bereits auf einen ersten einstündigen Termin, die psychotherapeutische Sprechstunde, muss man oft wochenlang warten. Alle zugelassenen Therapeuten und Therapeutinnen bieten eine solche Sprechstunde an. Zum Beispiel die Techniker Krankenkasse listet auf ihrer Webseite ihre Vertragstherapeuten auf. „Man gibt seine Postleitzahl ein und als Fachgebiet Psychotherapie“, erklärt Anna. Dann erscheint eine Liste mit infrage kommenden Therapeuten und deren Kontaktdaten.

Vergeblich auf Rückruf gewartet

„Dann habe ich diese Liste abtelefoniert, das heißt, mir erstmal die telefonischen Sprechzeiten notiert. Da muss man ebenfalls flexibel sein: Der eine Therapeut nimmt montags und mittwochs von 7 bis 7.30 Uhr Anrufe von Therapieplatz-Suchenden entgegen, die nächste freitags von 13 bis 13.45 Uhr – das geht querbeet durch die ganze Woche. Anna ärgert sich: „Mehrfach stimmten die angegebenen Sprechzeiten nicht, und der Anrufbeantworter nannte ganz andere. Und wenn ein Therapeut wegen Urlaubs erst in drei Wochen erreichbar ist, ist das auch frustrierend.“ Weitere Erlebnisse: Zwei Therapeutinnen bzw. ihr Anrufbeantworter versicherten, sie würden zurückrufen, was nicht geschah. Hatte Anna aber endlich einen Psychotherapeuten persönlich am Ohr, waren sie meistens sehr nett und empathisch. Und bedauerten am Telefon ausdrücklich, dass sie keine neuen Patientinnen aufnehmen könnten. Diese kurzen Gespräche brachten Anna aber nicht weiter.

In mehreren Fällen meldete sich auf dem AB keineswegs der gelistete Therapeut, sondern jemand anders, der wohl auch in dieser Praxis behandelt. „Und fast beschämend fand ich eine persönliche Erfahrung“, berichtet Anna. „Bei einem Spaziergang entdeckte ich ein Praxisschild und habe spontan geklingelt. Ein Mann öffnete mir, der sich nicht vorstellte, auch als ich sagte, dass ich dringend einen Therapieplatz suche und meine Krankenkasse das auch bezahlen würde. Er musterte mich von oben bis unten – ich war für den Spaziergang leger gekleidet – , und sagte nur: Wir arbeiten in unsere Praxis nur mit Privatpatienten. Viel Glück bei Ihrer Suche.“

Verfestigen sich solche Erkrankungen, leiden die Patienten immer stärker, und eine Therapie dauert zumeist länger, wenn sie endlich beginnen kann. Das wiederum verhindert, dass Plätze in einer Praxis wieder frei werden. Sowohl bei einer Depression als auch bei einer Angststörung kann es so weit kommen, dass der Mensch gar nicht mehr aus dem Haus gehen kann, seine sozialen Kontakte verliert und nicht mehr arbeiten kann: Die depressive Person schafft es einfach nicht mehr, aufzustehen, den Tag zu strukturieren und sich unter Leute zu begeben. Und bei einer starken Angststörung lässt es sich zuweilen nur noch in den schützenden eigenen vier Wänden aushalten, da außerhalb alles bedrohlich wirkt.

Welche ist die passende Therapie?

Ist man endlich in der Sprechstunde gelandet, wird geklärt, ob eine psychische Erkrankung besteht und welche psychotherapeutische Behandlung man braucht. Am Ende erhält man eine individuelle Patienteninformation mit Empfehlungen, wie es weitergehen soll, genannt Formular PTV 11. Falls man selbst keinen Sprechstundentermin ergattert, kann man die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung anrufen. „Diese vermittelt Ihnen gern eine Therapeutin bzw. einen Therapeuten“, versichert die Website von Annas Krankenkasse. „Bei diesem ersten Kontakt mit einem Therapeuten habe ich meine Probleme geschildert, der Therapeut hat mich einiges gefragt und mir dann im Formular ausgefüllt, dass ich eine Therapie brauche“, erklärt Anna.

Empfiehlt der Therapeut oder die Therapeutin eine psychotherapeutische Behandlung, hängt man sich erneut ans Telefon, um Termine für probatorische Sitzungen in der „Psycho-Lotterie“ zu gewinnen. Die Krankenkasse muss eine Psychotherapie nämlich genehmigen, und dafür muss man sie beantragen. Die Voraussetzung dafür ist wiederum, dass man an einer psychotherapeutischen Sprechstunde sowie an zwei probatorischen Sitzungen teilgenommen hat. In diesen Gesprächen mit einem Therapeuten wird eine genauere Diagnose gestellt und das passende Therapieverfahren bestimmt. Darin zeigt sich auch, ob Patientin und Behandler gut „miteinander können“. Die probatorischen Sitzungen leiten die ambulante Psychotherapie ein.

Nachdem Anna diese absolviert hatte, konnte sie den Therapie-Antrag stellen. Die Krankenkasse klärt dann, „ob die rechtlichen und die medizinischen Voraussetzungen erfüllt sind“. Außerdem muss die Therapeutin bzw. der Therapeut qualifiziert sein. Zum Beispiel Heilpraktiker für Psychotherapie kommen nicht infrage: Ihre kurze Ausbildung reicht den Kassen nicht aus.

Die erprobtesten und von den Kassen bezahlten Psychotherapien sind vor allem die tiefenpsychologisch fundierten Therapien und die kognitive Verhaltenstherapie. Psychoanalysen (von Sigmund Freud begründet), bei denen Patienten oft jahrelang auf dem Sofa des Therapeuten Platz nehmen und ihr gesamtes Leben durchkauen, können auch bezahlt werden, sind aber selten geworden. Bewährt hat sich vielmehr, bei der aktuellen Krisensituation anzuknüpfen und die Dauer einer Therapie der Problematik anzupassen. Eine schlimme posttraumatische Belastungsstörung, eine tiefe Depression oder eine Angststörung, die das Leben erheblich beeinträchtigt, braucht selbstverständlich eine längere Therapie als ein akutes Problem, das mit professioneller Unterstützung vielleicht schon in zehn Sitzungen so weit zu bewältigen ist, dass der hilfesuchende Mensch danach selbst damit klarkommt.

Appell an Minister Lauterbach

Der große Mangel an Therapieplätzen ist in einem vergleichsweise reichen Land wie Deutschland nicht hinnehmbar. Mehrere Berufsverbände von Psychotherapeuten haben sich zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen dem Aktionsbündnis Praxenkollaps (www.praxenkollaps.de) angeschlossen. „Unser Ziel ist es, den Zusammenbruch der ambulanten medizinischen Versorgung aufzuhalten, weil wir diese Versorgung als wesentlichen Bestandteil einer Daseinsfürsorge und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes ansehen“, heißt es auf der Internetseite.

Ist gefordert: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach.
Ist gefordert: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. © dpa | Michael Kappeler

Ende 2023 richteten die Psychotherapeuten einen Appell mit dem Titel „Zu wenig Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen zur Behandlung zugelassen“ an Gesundheitsminister Karl Lauterbach: „Psychotherapie ist Teil der kassenärztlichen Versorgung (…). Zahlreiche Regionen der Bundesrepublik sind immer noch unterversorgt. Und auch der Blick in die Zukunft ist besorgniserregend. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung geht davon aus, dass der Bedarf an Psychotherapie in den nächsten Jahren um 25 % steigen wird. (…) Viele behandlungsbedürftige Patienten können in der Folge erst zu spät oder gar keine ambulante Psychotherapie in Anspruch nehmen. Psychische Erkrankungen chronifizieren und wirken sich stark beeinträchtigend auf gesamte Lebensläufe aus. (...) Es ist zudem ein erheblicher Nachwuchsmangel in der Psychotherapie zu erwarten, wenn die Finanzierung der Weiterbildung in den Weiterbildungspraxen nicht endlich gesetzlich geregelt wird.“


Da Anna keinen Platz bei einem Vertragstherapeuten ihrer Krankenkasse gefunden hat, ihr Bedarf aber als dringlich eingestuft wurde, erklärte sich die Kasse bereit, die Kosten für eine „außervertragliche Psychotherapie“ zu übernehmen. Aber auch davor sind bürokratische Hürden zu überwinden. Folgendes will die Krankenkasse jeweils für eine Genehmigung haben:

1. einen von der Patientin unterschriebenen Antrag mit der eine Liste der Vertragstherapeuten, bei denen sie nach einem freien Termin gefragt hatte. „Bitte geben Sie auch an, wie lange die Wartezeit bis zu dem Termin gewesen wäre.“

2. die individuelle Patienteninformation mit Empfehlungen, wie es weitergehen soll. Darin muss angekreuzt sein, dass die Therapie „zeitnah“ beginnen soll.

3. einen Kostenvoranschlag mit der Anzahl der geplanten Sitzungen, den „begleitenden Leistungen“ und Höhe der Kosten.

4. Kopien der Qualifikations-Nachweise der Therapeutin bzw. des Therapeuten – zum Beispiel die Approbationsurkunde zur ärztlichen Psychotherapie, Psychologischen Psychotherapie oder bei jungen Menschen für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie. „Bitte senden Sie uns auch den Fachkundenachweis für 1 der 4 Richtlinienverfahren (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, analytische Psychotherapie oder Systemische Therapie).“

5. den Bericht des für den Medizinischen Dienst und „einen ungeschwärzten Konsiliarbericht“.

Fazit: Befindet sich ein Mensch in einer seelischen Krise, muss er selbst zusehen, wie er an eine qualifizierte Psychotherapie kommt. Das ist aufwendig. Die Kraft für dieses Prozedere hat aber nicht jeder, dem es ohnehin schlecht geht. Besser dran sind, wie so oft im Leben, die Personen, die über reichlich Geld verfügen. Auch sie finden vielleicht nicht auf Anhieb einen Therapeuten, dessen Behandlung sie aus eigener Tasche bezahlen. Aber mit Sicherheit schneller als der Großteil der Betroffenen, der wie Anna Schuster lange nach einem Platz suchen muss. Trotz aller Fortschritte in der gesellschaftlichen Akzeptanz psychischer Erkrankungen scheinen das immer noch Krankheiten „zweiter Wahl“ zu sein. Ob die Initiative „Praxenkollaps“ hilft, diesem Missstand abzuhelfen, bleibt abzuwarten.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.