Essen/Unna. Er ist der jüngste Student, der je an der Folkwang-Hochschule aufgenommen wurde: Hugo (6) studiert Klavier und komponiert im Nebenfach.
Bevor sein Unterricht beginnt, muss Hugo einen kleinen Tritthocker einstellen. Die Füße des Sechsjährigen reichen noch nicht an die Pedale des großen Konzertflügels heran, den sein Blondschopf gerade so überblicken kann. An den Tasten aber ist Hugo ein ganz Großer, das hört selbst das ungeübte Ohr. Rachmaninows Etudes-tableaux op. 33 spielt er zurzeit am liebsten, sagt er. Weil das so schön schnell ist.
Hugo liebt rasante Stücke – etwas zum Leidwesen seines Professors Till Engel, der ihn seit Beginn des Sommersemesters an der Folkwang-Universität der Künste in Essen-Werden im Hauptfach Klavier unterrichtet. Denn wenn es nach ihm geht, dann soll sich Hugo „ganz in Ruhe“ entwickeln: „Bei einem Kind sollte das Spiel und die Freude im Vordergrund stehen“, sagt Engel. Ein „Ausnahmetalent“ sei dieser Hugo Selzer, mit einem „ungeheuren Ausdruckswillen“, attestiert Engel. Er sei verblüfft gewesen, als er den Sechsjährigen aus Unna beim Vorspiel zum ersten Mal gehört habe. Und auch Professor Matthias Sakel, der das Institut für künstlerische Nachwuchsförderung, Folkwang Junior, leitet, war sich schnell sicher, Hugo trotz seines jungen Alters fördern zu müssen: „Er hat nach einem Vierteljahr privatem Klavierunterricht Stücke gespielt, für die andere fünf Jahre brauchen.“
Wenn Hugo Selzer mitfährt, läuft im Auto nur noch Klassik
Während die meisten Jungs in seinem Alter Besuchern zuerst ihr Kinderzimmer samt Spielzeug zeigen wollen, stürmt Hugo ins Wohnzimmer vor. Dort musste der große Esstisch der Familie weichen und einem Konzertflügel Platz machen. Hugo spielt gleich drauf los. Oft setze sich sein Sohn noch vor der Schule ans Klavier, erzählt Vater Bastian. Radiosender wie 1Live oder WDR2 dürfe er nicht mehr im Auto hören, wenn Hugo mitfährt. „Er will dann WDR3 oder andere Klassik hören, meine Spotify-Playlist ist voll davon“, sagt der Vater, der als Betreiber zweier Clubs in Essen eigentlich ganz andere Musik hört. Und ebenso wie seine Frau Kathrin beherrscht er weder ein Instrument noch kann er Noten lesen. Hugo brachte sich das Lesen mit etwa vier Jahren selbst bei.
Dass ihr Sohn etwas anders ist als andere Kinder, das sei ihnen erst bei einem Treffen mit einem benachbarten Lehrer vor etwa drei Jahren klar geworden. Bei einem Trip ins Sauerland hatte der damals gerade Vierjährige angefangen, mit Buchstaben zu rechnen, weil ihm Zahlen zu langweilig geworden waren. „Da saß er im Auto und sang plötzlich A plus B gleich C und so ging das immer weiter“, erinnert sich Kathrin Selzer.
„ „Seine Spielfreude ist ansteckend.““
Als er etwas über ein Jahr alt war und seine Mutter zum Shoppen begleitete, konnte er bereits zwischen rosa, rot und lila unterscheiden. „Dass das ungewöhnlich ist, war uns erst nicht ganz klar, wir hatten ja keinen Vergleich“, sagt Kathrin Selzer. Der Nachbar habe ihnen schließlich empfohlen, die Gesellschaft für hochbegabte Kinder zu kontaktieren. Dann geht alles recht schnell. Hugo lernt Schach, gewinnt bei einer Junior-Meisterschaft in Hamm einen Titel. Seit er in einem Hörspiel Beethovens wohl bekanntestes Klavierstück „Für Elise“ gehört hat, ist er hin und weg, will das unbedingt selbst spielen.
Hugo Selzer wird neben dem Studium an der Folkwang-Universität auch noch privat unterrichtet
Seine Familie schickt ihn in eine Musikschule, wo er gemeinsam mit anderen Kindern Klavier lernen soll. „Das hat nicht funktioniert. Er hat den Unterricht ständig gestört, wollte spielen, was er will. In der Gruppe konnte der Lehrer nicht auf seine Bedürfnisse eingehen.“ Die Selzers machen Bekanntschaft mit der Konzertpianstin Daria Burlak, ein Glücksgriff. Sie geht auf Hugos Wünsche ein und besucht die Selzers heute vier Mal die Woche, um Hugo am Klavier zu unterrichten. Zusätzlich zu seinem Studium an der Folkwang-Universität in Essen. „Seine Spielfreude ist ansteckend“, sagt Daria Burlak begeistert. Sie ist es, die Hugo „Für Elise“ beibringt. Mittlerweile ist ein großes Repertoire hinzugekommen. Prokojew, Rachmaninov, Mozart und sogar eigene Kompositionen. Dank Daria kann sich Hugo in all seiner kindlichen Spielfreude austoben.
Während Gleichaltrige mit Lego oder Playmobil spielen, komponiert Hugo. „Eine schöne Erinnerung“ heißt sein neuestes Werk. Etliche mit Bleistift beschriebene Notenblätter hat Mutter Kathrin beim Unterricht an der Folkwang-Universität in ihrer Handtasche dabei. Die Schrift ist eindeutig die eines Kindes, die Stücke sind es ganz sicher nicht. Komposition lernt Hugo nun als Nebenfach an der Folkwang-Universität. Einmal die Woche besucht er den barocken Bau in Essen für sein Studium.
Den Kontakt zu der Hochschule kam im Konzerthaus Dortmund zustande. Nach einem Konzert setzte sich Hugo ans Klavier im Foyer und spielte. Das blieb nicht lange unbemerkt: „Hugo darf nun wann er will ins Konzerthaus. Und wir bekamen den Kontakt zu Folkwang Junior“, erzählt Vater Bastian.
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Folkwang Junior fördert aktuell 23 Kinder und Jugendliche
Hugo ist eines von 23 Kindern und Jugendlichen, denen dort neben der regulären Schule ein Studium ermöglicht wird. Seit fünf Jahren besteht das Institut für künstlerische Nachwuchsförderung an der der Folkwang-Universität der Künste. Ziel ist es, junge musikalische Talente aus dem Ruhrgebiet früh zu erkennen und ihre Begabung zu fördern. Wie Hugo, der nach den Sommerferien bereits in die 5. Klasse kommt, haben viele der Kinder eine Hochbegabung, überspringen häufig mehrere Klassen. „Uns ist wichtig, dass das Studium den regulären Schulunterricht nicht beeinträchtigen darf“, erklärt Institutsleiter Matthias Sakel.
Ganz bewusst nimmt „Folkwang Junior“ ausschließlich Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet auf – anders als an anderen künstlerischen Hochschulen, wo mitunter Talente aus Asien eingeflogen werden. „Uns geht es auch um eine Stärkung der Region“, sagt Sakel, der ein enges Netzwerk zu den regionalen Musikschulen und Konzerthäusern im Ruhrgebiet aufgebaut hat. Der erste Folkwang-Junior-Student beginnt im Oktober im Alter von 15 Jahren sein Bachelor-Studium im Hauptfach Klavier. „Die Zeit im Junior-Studium hier wird anerkannt, das erspart den Studierenden viel Zeit“, sagt Sakel, der gern mehr Talente fördern würde. Der Andrang sei groß, nicht zuletzt auch, weil durch die Vernetzung mehr Talente erkannt werden.
„Folkwang Junior“ soll Talente aus dem Ruhrgebiet fördern
Aber es fehlt an Geld. „NRW ist bundesweit Schlusslicht in der musikalischen Talentförderung. Die Jungstudenten haben anders als in anderen Bundesländern in NRW nur Gasthörerstatuts, obwohl die Zertifikate und alles Erlernte auch im regulären Studium später anerkannt werden. Das muss dringend geändert werden“, hofft Sakel auf eine bessere Begabtenförderung durch das Land.
Dass Hugo dringend an die Folkwang-Uni gehört, sei ihm aber trotz seiner sechs Jahre direkt klar gewesen, versichert Sakel und ergänzt: „Bei Musik spielt das Alter keine Rolle.“ Davon überzeugte Hugo in der vergangenen Woche auch rund 100 Zuschauerinnen und Zuschauern in der Friedenskirche in Letmathe, wo er sein erstes Solo-Konzert spielte. „Es war nicht nur der enorme Schwierigkeitsgrad der ausgewählten Werke, sondern bereits die Gestaltungskraft und Beseeltheit, die dieser Junge den Stücken verlieh“, urteilte ein Kritiker.
Und Hugo? Möchte natürlich Konzertpianist werden, wenn er mal groß ist.