Essen. Der einst innovative US-Popstar hat ein Sexismus-Problem. Und legt mit „Everything I Thought It Was“ ein richtig schlechtes Album vor.
Es hat vermutlich schon mal mehr Spaß gemacht, Justin Timberlake zu sein. Obwohl der Immer-noch-Weltstar soeben sein sechstes Soloalbum „Everything I Thought It Was“ herausgebracht hat, bekommt er von allen möglichen Seiten ordentlich was auf die Mütze. Woran der 43-Jährige, dem die Menschheit immerhin Hits wie „Cry Me A River“ oder „SexyBack“ verdankt, in erheblichem Maße selbst schuld ist. Die neue Platte ist furios vermurkst, aber das ist nicht mal sein größtes Problem gerade. Vielmehr begräbt der Zeitgeist ihn unter sich wie ein Schneebrett – nur dass sich dieses nicht plötzlich gelöst hat, sondern langsam auf ihn zugekommen ist.
Justin Timberlake hätte die Chance gehabt, mit seiner Vergangenheit als Macho mit leicht frauenfeindlichen Tendenzen aufzuräumen. Etwa, indem er sich bei Janet Jackson dafür entschuldigt (oder eine Social-Media-Entschuldigung nicht bald schon wieder löscht), dass er ihr 2004 beim Superbowl die Kleidung runterriss und eine Brust freilegte. Jacksons Karriere war danach für immer beschädigt, seiner schien die Sache eher noch Auftrieb gegeben haben.
Timberlake und die Sache(n) mit Britney Spears
Oder bei Britney Spears. Dafür, dass er seine damals 19 Jahre alte Freundin erst schwängerte und dann zur Abtreibung drängte, später Schluss machte und in seinem Hit „Cry Me A River“ über die untreue Ex herzog. Aus Spears‘ aufschlussreichen Memoiren „The Woman In Me“ weiß man nicht nur die Sache mit dem Schwangerschaftsabbruch. Sondern auch, dass nicht sie die Liebesschurkin, sondern vielmehr er ein seriell fremdgehender Sack war.
Schein-coole Typen, die sich bei Gegenwind wegducken und lieber die Schuld bei den anderen suchen, kommen in einer Gesellschaft, die gegen toxische Männlichkeit immer allergischer wird, nicht mehr so ohne Weiteres durch mit ihrem Verhalten. Entsprechend mau, steht es um Reputation und Karriere des Unsympathen Justin Timberlake. Das Bild des ewig strahlenden Pretty Boys, der – genau wie Spears oder Christina Aguilera – als Absolvent der Kinderstarschmiede „Mickey Mouse Club“ Ende des 20. Jahrhunderts groß rauskam, hat nicht nur ein paar Kratzer abbekommen. Es ist besudelt mit Flecken, die möglichweise nie wieder rausgehen.
Sechs Jahre nach „Man Of The Woods“ nun „Everything I Thought I Was“
Und dann, ernsthaft Justin, stellst Du Dich inmitten der Britney-Kontroverse nicht auf die Bühne des New Yorker „Irving Plaza“, um am eigenen Geburtstag zur Präsentation der neuen Single „Selfish“ einzuräumen, was für ein Mistkerl Du damals warst. Sondern rufst stattdessen: „Ich möchte die Gelegenheit nutzen… mich bei verdammt nochmal niemandem entschuldigen“. Das passt vielleicht zu den Worten Deines etwas untergangenen „Comeback“-Songs, der von Egoismus und Selbstherrlichkeit handelt. Aber nur mal aus der karrierestrategischen Perspektive war dieser Spruch das allerletzte, was Du gerade gebrauchen kannst.
Die Krönung dieses in Echtzeit zu beobachtenden menschlichen Versagens ist nun ausgerechnet „Everything I Thought It Was“. Sechs Jahre lang hat Timberlake kein Album mehr veröffentlicht, und „Man Of The Woods“ von 2018 war ja ein ziemlich maroder Versuch, sich bei der Flanellhemdfraktion einzuschmeicheln und Bodenständigkeit zu simulieren. Das letzte anständige Album hieß „The 20/20 Experience“ und ist elf Jahre alt, der letzte Singleerfolg war die lustige Kinderdiscosingle „Can’t Stop The Feeling“ (2016).
„Everything I Thought I Was“: Lahme Musik, schlimme Texte
Das neue Material ist nun völlig frei von Songs, die das Zeug zu so etwas wie einem Hit hätten. Und das, obwohl „Everything I Thought It Was“ fast 77 Minuten lang läuft. Fast jedes der achtzehn Lieder ist zu lang. „Technicolor“ etwa suppt fast siebeneinhalb völlig ereignislose Minuten lang aus den Ohrstöpseln. Überhaupt ist die ganze Platte stinklangweilig. Bisschen Pop, bisschen R&B, bisschen Disco, bisschen das, was Timberlake für Soul hält. Die zwei von Calvin Harris betreuten Nummern „F**kin‘ Up The Disco“ und „No Angels“ haben einen gewissen Unterhaltungswert und könnten unter adäquaten Gesamtumständen eventuell zum Tanz verleiten, „Sanctified“ hat immerhin eine kantige Gitarre zu bieten und „My Favorite Drug“ soll wohl an den frühen Michael Jackson erinnern. „Drown“ lässt aber nur kurz aufhorchen, weil es eine schlechtere Kopie von „Mirrors“ ist. Und sonst? Das ganz große Gähnen.
Übler als die Musik sind freilich die Texte. Fast immer geht es um Sex, aber nie so, dass man beim Hören Lust bekommt. Im Gegenteil. Man wünscht sich weg, weit weg. Etwa wenn er in „What Lovers Do“ mit seinen Liebhaberqualitäten prahlt oder wenn er in „Infinite Sex“ darüber schwadroniert, dass das Hotelzimmer, in dem er sich nun mit irgendeiner Hottie vergnügt, hoffentlich versichert sei. Eine schlaffe Plattitüden-Parade.
Gerüchte über die Paartherapie von Justin Timberalke mit Jessica Biel
Ein, zwei Traurigkeit zum Ausdruck bringen wollende Balladen gibt es auch. In „Alone“ ist sie weg, und er wieder allein, allein. Aber in diesem lauwarmen Emotionsbad von einem Song fühlt man nicht mit ihm, sondern freut sich höchstens für sie. Im echten Leben, so wird geraunt, laufe die Paartherapie von Timberlake und Gattin Jessica Biel (die beiden haben einen knapp neunjährigen Sohn, Silas) so schlecht, dass man in den Sitzungen jetzt schon Tarotkarten lege. Ach, und das zweite Wiedervereinigungsstück mit den anderen vier von der Boyband *NSYNC, die dem nach Solo-Ruhm strebenden Timberlake vor gut zwanzig Jahren nicht mehr spannend genug war, heißt: „Paradise“. Und ist, nein: nicht die Hölle, denn wir nehmen hier nicht jedes billige Wortspiel mit – aber schon krass fad.
Und nun? Die Tour im Sommer verkauft sich gut, das schon. Doch perspektivisch muss hier kräftig umgesteuert werden. Justin Timberlake sollte sich als gebrochener, reuiger und gefallener Held neu erfinden, Bescheidenheit und Demut statt Selbstverliebtheit in seinen Songs zum Ausdruck bringen und ernsthaft um Verzeihung bitten. Dann: Comeback-Tour und -Album mit *NSYNC, und ein gemeinsamer Song mit Britney, der dann aber wirklich so reinknallen muss wie ein Tütchen Brausepulver, pur auf die Zunge gekippt.