Essen. Comedian Moritz Neumeier schont in der Weststadthalle niemanden. „Unangenehm“, wie der Programmtitel droht, ist das aber nur manchmal.

Der ausdauernde Schlussapplaus ist noch nicht verklungen, da lacht Moritz Neumeier unvermittelt auf. „Ich habe gerade überlegt, was passiert, wenn ich einfach nicht gehe und hier stehen bleibe“, sagt er und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Aber drei Sekunden später habe ich dann gemerkt: Nee, lieber nicht – ist ja doch ganz schön unangenehm.“

„Unangenehm“ – so hat Neumeier sein achtes Programm in neun Jahren getauft, doch der Titel führt in die Irre: Die 75 Minuten Stand-up-Comedy, die der gebürtige Schleswig-Holsteiner am Donnerstagabend in der ausverkauften Essener Weststadthalle aufführt, sind trotz einiger wohldosierter Frechheiten – „Ich komme gern in so Städte wie Essen, wo die Leute nicht viel haben. Wenn die mit leeren Taschen kommen, kann ich ja umso mehr reinstecken“ – sehr wohltuende, letztlich doch menschenfreundliche Unterhaltung. Zumal im Vergleich mit Neumeiers vorherigem Programm „Kollaps“, in dem der an Depressionen leidende Komiker einen teils sehr persönlichen Seelenstriptease rund um seine Ängste ablieferte, selbstbefreiende Tanzeinlage und dramatischer Bühnenabgang inklusive.

Unangenehme Situationen: Moritz Neumeier kann kopfschüttelnde Selbstironie

Dass sich der heutige Abend leichter anfühlt, liegt unter anderem daran, dass Neumeier das Tragikomische, Absurde, Alberne in all den Situationen aufdeckt, die ihm unangenehm sind: Ob es ums Altern geht, um politische Diskussionen im Freundeskreis, peinliche Erlebnisse im Behinderten-Zivildienst, die eigene Anfälligkeit für Verschwörungsmythen oder ungelenke Flirtversuche als Teenager: Seine kopfschüttelnde Selbstironie angesichts der eigenen Fehlleistungen verdünnt alle Gefühle von Scham und Bedrückung auf ein verträgliches Maß.

Trotz manches derben Witzes bleibt Neumeier dabei ein Sympathieträger, weil er zwar niemanden schont, aber am allerwenigsten sich selbst: „Mein moralischer Kompass kriegt Falten“ sagt der Vater dreier Kinder dazu, dass mit zunehmendem Alter die Gewissheiten bröckeln. Und schreit sich im Stil eines Agitprop-Theaterstücks neben dem Mikrofon leer: „WER KÄMPFT, KANN VERLIEREN! WER NICHT KÄMPFT… MUSS NICHT KÄMPFEN! FREIES WOCHENENDE! SAMSTAG HAT DIE GROSSE BALLETT-AUFFÜHRUNG! REVOLUTION GERNE, SOBALD DIE KINDER AUS DEM HAUS SIND!“

Kann auch brüllen: Moritz Neumeier mit seinem Programm „Unangenehm“ in der Essener Weststadthalle.
Kann auch brüllen: Moritz Neumeier mit seinem Programm „Unangenehm“ in der Essener Weststadthalle. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Nicht mit der varietéreifen Narrenfreiheit, die er mit Podcast-Partner Till Reiners erreicht

Gelegentlich streut der Komiker ernstere Momente ein; die Behauptung etwa, dass er wie viele Bühnenarbeiter nur geringen Selbstwert empfinde, darf man allen saftigen Pointen zum Trotz so glauben. Das macht stutzig. Die Show findet jedoch immer wieder zügig zu einer gewissen Beschwingtheit zurück, wenngleich sie nie jene varietéreife Narrenfreiheit erreicht, die Neumeier zusammen mit seinem Podcast-Partner Till Reiners in der gemeinsamen Improvisations-Show-Reihe „Schund & Asche“ pflegt.

Das Tempo ist dabei stets so hoch, dass das Publikum manchmal gar nicht richtig zum Klatschen kommt, weil es den nächsten Gag nicht verpassen will – selten erlebt man Comedy-Abende, die so lückenlos auf hohem Niveau unterhalten, ganz ohne Durchhänger. Neumeier überdreht in Gestik, Mimik und Ton nie so wie manche seiner Kollegen, sondern erzählt organisch. Das spricht für Können und Vertrauen in seine Texte. Nur selten spielt er eine Szene theaterartig aus. Dann leckt er sich schon mal übertrieben lange die Reste einer imaginären Zimtschnecke von den Fingern, auch das wieder mit bestechendem Timing und überzeugender Körperkomik.

Moritz Neumeier weckt bei aller Überheblichkeit und Provokation die Sehnsucht nach Gemeinschaft

Am Ende haben alle ihr Fett weg: Die Zwillings- und Teenager-Eltern in den ersten Reihen, Greta Thunberg (darf man auch mal gekonnt verspotten), Dieter Nuhr (wichtiger Wut-Blitzableiter für Linke) und selbst Neumeiers esoterisch veranlagte Mutter, die dem Sohn alles Religiöse und Spirituelle verleidet hat: „Was macht man, wenn der Siebenjährige die eigenen Gefühle nicht versteht? Man fragt das Universum! Aber das Universum nuschelt. Also braucht man ein Pendel!“

Das Spannende: Je überheblicher sich Moritz Neumeier gibt, je mehr er das Publikum provoziert, desto stärker ist die Show von einer Sehnsucht nach Gemeinschaft durchdrungen. Das kennt man so ähnlich etwa auch von Neumeiers Inspiration Kurt Krömer, der in seiner Rolle auch gern schnodderig und dreist mit seinen Gesprächspartnern umgeht, aber doch immer sehr menschlich erscheint.

Und das wirkt: Nach dem Auftritt signiert Neumeier Poster, gegen Spenden für eine dringend benötigte Operation einer Frau, die sie nicht von der Krankenkasse bezahlt bekommt. In der langen Schlange wird viel gelächelt. Die beiden Newcomer Hinnerk Köhn und Selma Tiganj, denen Mentor Neumeier je zehn Minuten in seiner Show eingeräumt hat, stehen plaudernd dabei. Und an diesem Moment ist überhaupt nichts: unangenehm.